âWo, verdammt noch mal ...", murmelte er, während er die Papiere auf seinem Schreibtisch durchforstete.
Es klopfte und seine Sekretärin Helen steckte den Kopf durch die Tür.
âVergiss nicht, dass in zehn Minuten das groÃe Meeting im Konferenzsaal eins stattfindet. Heute wird auch Mr. Turner anwesend sein. Also binde dir die Krawatte noch um und zieh dir dein Sakko über, ja?", lächelte sie und wollte schon wieder verschwinden.
âHelen", hielt Jess sie jedoch auf, âhast du irgendwo meine Geldtasche gesehen? Ich finde sie einfach nicht."
Die Frau schüttelte nur den Kopf. Die Sekunde darauf war sie auch schon wieder verschwunden. Und Jess suchte weiter. Doch weit und breit war kein Portemonnaie sichtbar.
Wie er es hasste, wenn er irgendetwas verlor.
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Als er an diesem Abend nachhause kam, hatte er das Gefühl, dass etwas anders war. Nicht nur, dass seine Geldbörse nicht aufgetaucht war. Es lag auch etwas in der Luft.
Er schmiss gerade den Schlüssel in den Korb und hängte seine Jacke auf die Garderobe, als er bemerkte, dass im Esszimmer kein Licht brannte. Und auch das Wohnzimmer war dunkel.
âRory?", rief er ins Haus, doch es blieb still. Er stellte die Tasche ab und machte sich auf den Weg in die Küche. Doch auch dort fand er seine Frau nicht. Dafür entdeckte er seine Geldtasche auf der Anrichte. Anscheinend hatte er sie am Morgen dort liegen lassen.
Doch das war ihm im Moment egal. Er fand es komisch, dass sie noch nicht zuhause war. Deshalb ging er zu dem kleinen Tischchen im Wohnzimmer, auf dem die Ladestation für das Schnurlostelefon und der Anrufbeantworter standen. Er drückte den Knopf zum Abrufen, obwohl das grüne Licht nicht leuchtete.
âSie haben keine neuen Nachrichten", ertönte die mechanische Stimme auch sofort, doch sonderbarerweise sprach sie noch weiter, âSie haben eine alte Nachricht."
Das fand Jess sonderbar, denn an und für sich löschten sie die Nachrichten, sobald sie sie gehört hatten. Also drückte er ein weiteres Mal den Knopf, um die alte Nachricht zu hören.
âHallo, Lorelai. Hier spricht deine GroÃmutter. Francine. Wenn du diese Nachricht hörst, dann ruf bitte umgehend an. Es ist wichtig", erklang eine ihm unbekannte Frauenstimme. Francine? Wer war das? Die Frau hatte gesagt, sie wäre Rorys GroÃmutter. Also konnte es sich nur um die Mutter ihres Vaters handeln. Doch mit den Eltern von Christopher hatte sie doch gar keinen Kontakt?
Jess wurde immer verwirrter. Was das wohl alles zu bedeuten hatte?
Er löschte die Nachricht und stieg danach die Treppen in den oberen Stock hinauf. Gleichzeitig löste er die Krawatte vollständig und massierte sich die Schläfen. Es war ein langer Tag. Er wollte nur noch ins Bett.
Jess öffnete die Tür zum gemeinsamen Schlafzimmer von Rory und ihm.
Und da entdeckte er sie. Sie saà am Boden, mit dem Rücken an das Ende des Bettes gelehnt. Der Raum war völlig dunkel, es fiel nur das Licht der StraÃenlaterne von auÃen durch das Fenster. Rund um sie verteilt lagen gebrauchte Taschentücher. Als er die Tür öffnete, wandte sie ihm den Blick zu und erhob sich schnell. Dann eilte sie auf ihn zu und warf sich schluchzend in seine Arme.
âBaby ...", stotterte er, â... Was ist denn passiert?" Er schlang die Arme um sie und drückte sie an sich, während sie von immer heftigeren Schluchzern gebeutelt wurde.
Rory löste sich etwas von ihm und sah ihn mit tränenverschleierten Augen an. Ihr Gesicht war ganz verquollen und immer neue Tränen kullerten aus ihren Augenwinkeln.
âMein Dad ist tot."
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Zwei Wochen später betraten Jess und Rory zusammen mit einem kleinen Mädchen gegen Abend hin ihr Haus. Ãber der Schulter des Mannes hing eine groÃe, schwere Tasche. Die Frau hielt das Kind an der einen und einen groÃen Teddybären in der anderen Hand.
âKomm, Georgia. Ich zeig dir, wo du schlafen wirst", lächelte Rory ihrer kleinen Schwester zu. Als Jess dieses Lächeln sah seufzte er innerlich auf. Das war nicht das wahre, das ECHTE, Lächeln seiner Frau. Ihre Augen strahlten nicht so, wie sie es sonst taten, wenn sich ein Lächeln auf ihre Züge zauberte. Der Tod von Christopher nagte an ihr, doch sie wollte nicht darüber reden. Zum Teil verstand er es, zum Teil besorgte es ihn. Doch er bohrte nicht weiter. Irgendwann würde sie zu ihm kommen und reden wollen. Das war immer so.
Rory war immer diejenige in der Beziehung gewesen, die alles besprechen wollte. Ãber alles reden wollte. Die kein Problem einfach so unter den Tisch fallen lies, bevor es nicht geklärt war. Doch seit dem Tod ihres Vaters hatte sich das schlagartig geändert.
Und dann hatten sie die Nachricht bekommen, dass Sherry einen Nervenzusammenbruch hatte und ins Sanatorium musste. Rory hatte sofort erklärt, dass ihre kleine Schwester, während deren Mutter nicht da war, bei ihnen wohnen würde. Keiner hatte es gewagt zu widersprechen. Nicht einmal Straub und Francine Hayden.
Jetzt stiegen sie zusammen die Treppen in den oberen Stock und Rory zeigte dem Mädchen das Zimmer. Als sie es betraten, entdeckte Georgia natürlich sofort den groÃen
âBarbie-Reitstall" der auf dem Bett stand und mit einer groÃen, rosa Schleife verziert war.
âIst der für mich?", wollte sie erstaunt und mit glitzernden Augen erfahren.
âNatürlich. Für wen denn sonst?", lächelte Rory zurück.
Jess schüttelte den Kopf. Gut, er mochte nicht recht viel von Kindererziehung verstehen, aber er war sich sicher, dass es nicht richtig war ein kleines Mädchen, kurz nachdem der Vater gestorben war, mit Geschenken zu überschütten. Denn mit den Sachen, die Georgia bis jetzt bekommen hatte, hätte sie leicht ein ganzes Zimmer vollstellen können.
âIch geh hinunter und mach Abendessen", erklärte er deshalb. Rory nickte ihm zu und wandte sich wieder ihrer kleinen Schwester zu.
Als er das Zimmer verlassen hatte und gerade auf dem Weg ins untere Stockwerk war, hörte er nochmals Georgias Stimme.
âIst Daddy jetzt beim lieben Gott?"
Es gefror ihm das Blut in den Adern. Auch wenn es eine ganz natürliche Frage für eine Fünfjährige war, wusste er doch genau, dass Rory bei dem Thema von Christophers Tod noch immer ziemlich empfindlich war.
Er wollte schon ins Zimmer zurück eilen, doch zu seiner Ãberraschung hörte er wenige Augenblicke später Rorys Antwort.
âJa, Schätzchen. Der liebe Gott hat ihn zu sich geholt."
âWarum hat ihn der liebe Gott zu sich geholt?"
âWeil er sich sagte, dass es für Dad Zeit wäre nachhause zu kommen."
âAber sein Zuhause ist doch bei uns, oder Rory?"
Er konnte förmlich sehen, wie Rory die Tränen hinunterschluckte. Dennoch hörte er sie weitersprechen.
âJa, Georgia. Das war es. Doch jetzt ist er in seinem neuen Zuhause. Dort, wo wir alle einmal zuhause sein werden. Du und ich und deine Mommy und Jess und Tante Lorelai und alle, die wir lieb haben. Und eines Tages werden wir uns alle dort wiedersehen und nie wieder weggehen."
Jess war sich sicher, dass Rory jetzt die Tränen übers Gesicht liefen. Deshalb drehte er um und ging wieder zu den beiden zurück. Als er das Zimmer betrat rauschte Rory gerade durch die Tür.
âIch mach das Abendessen", erklärte sie mit zittriger Stimme und war im Moment darauf verschwunden. Er wollte ihr schon nach, doch da wurde er von Georgias Stimme aufgehalten.
âJess? Hilfst du mir meinen Barbie-Stall zusammenzubauen?" Er wandte den Blick auf das kleine Mädchen. Bei dessen Gesichtsausdruck musste er lächeln.
âNatürlich, Schätzchen", antwortete er und trat auf sie zu, âDann zeig mir mal die Gebrauchsanleitung."
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Monate später hatte alles wieder seine Ordnung gefunden.
Am selben Abend, an dem Rorys kleine Schwester zu ihnen gekommen war, hatte die Frau endlich über den Tod ihres Vaters gesprochen. Und Jess war für sie da.
Am Tag darauf fuhren Lorelai, Rory und Georgia für einige Tage ans Meer.
âMit der Welt wieder eins werden" nannten sie das. Und als sie aus dem Kurzurlaub zurück kamen waren sie alle wie ausgewechselt. Und plötzlich war Rorys echtes Lächeln wieder da.
Nach einigen Wochen war Sherry aus dem Sanatorium zurück und Georgia wieder bei ihr. Es war ein tränenreicher Abschied gewesen.
Es war der selbe Tag gewesen, an dem jenes Thema auch zum ersten Mal aufgekommen war. Jenes Thema, dem er bis jetzt immer gut ausweichen konnte. Doch anscheinend war es an der Zeit gewesen, dass es aufkam. Zumindest fand es Rory an der Zeit.
âWar es nicht toll, als Georgia hier war?", begann sie als sie abends im Bett lagen, sie ein Buch in der Hand, er am Laptop arbeitend.
In diesem Moment wusste er, dass diese Frage nicht so unschuldig war, wie sie klang. Er musste sich seine Antwort gut überlegen. Jedes falsche Wort konnte zum Verhängnis werden.
âHuh", meinte er deshalb und tat so, als würde er total vertieft über seiner Arbeit sitzen.
âKomm mir nicht so, Jess", hatte sie daraufhin gelacht und das Buch zur Seite gelegt.
âWas meinst du?", tat er weiter auf unwissend. Jedoch war es für ihn jetzt sonnenklar, auf was dieses ganze Gespräch hinauslief.
âDu weiÃt, was ich mit dir besprechen will", gab sie nicht nach.
Es war sinnlos. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, musste es ausdiskutiert werden. So war es immer. So würde es immer sein. Also klappte er den Laptop zu und stellte ihn auch zur Seite. Dennoch war er noch nicht bereit völlig nachzugeben.
âNatürlich können wir Georgia öfters hier haben."
âUnd du weiÃt genau, dass das hier nicht das Thema ist."
âIch weià nicht wovon du ..." Sie unterbrach ihn.
âFindest du es nicht auch an der Zeit, dass wir über eigene Kinder nachdenken?"
TBC