Nachtigallen (Dark)
#21

...

Nachdem sie in den frühen Morgenstunden schon einige Minuten schweigend nebeneinander gelegen hatten, fragte Arturo leise nach Lillians Befinden.
Diese hatte die Augen auf die aufgehende Sonne, welche durch die scheinbar einzig saubere Stelle des Fensters einen hellen Strahl auf ihr Haar warf, gerichtet.
Als sie nicht antwortete ergriff er ihre Hand. „Habe ich etwas Falsches getan?“
Lillian schüttelte den Kopf. Diesmal bemerkte Arturo die einzelne Träne, welche über ihre Wange rann. Er verwischte sie nicht. „Was ist passiert?“
Als sie ihm erneut nicht antwortete, richtete er sich auf und umfasste ihre Handgelenke. Sie zuckte zusammen. Arturo bereute seine Grobheit. Er hatte ihr nicht wehtun wollen. „Lillian! Sag mir sofort, was passiert ist!“
Sie zitterte ein wenig, als sie sich ebenfalls aufsetzte. „Du musst bald gehen.“ Meinte sie emotionslos.
Er musterte sie Stirn runzelnd. „Ich weiß, dass du dich mit deiner Großmutter gestritten hast. Worum ging es in dem Streit?“
Zum ersten Mal seit ihren leidenschaftlichen Stunden sah sie ihn an. Ihre Augen schienen jeden Glanz verloren zu haben. „Ich muss jetzt gehen.“ Lillian sprang auf und zog sich schnell an. Er tat es ihr gleich und fing sie schließlich vor der Tür ab. „Lillian…“ Er stellte sich zwischen sie und die einzige Ausgangsmöglichkeit.
„Arturo, bitte…“ Ihre Stimme stockte.
„Lillian, wenn irgendetwas passiert ist, musst du mir das sagen.“
Lillians Stimme hob sich. „Warum muss ich das? Du erzählst mir doch nicht einmal, dass du mit dieser billigen Schlampe tanzen gehen wolltest!“
„Also geht es doch um sie?“
„Ja, natürlich. Die ganze Welt dreht sich nur um dich!“ Schrie sie ihn an. Lillian wusste, wie sehr sie ihm in diesem Moment unrecht tat.
„Du bist völlig fertig nachts zu mir gekommen. Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du nur eine Nummer schieben wolltest.“
„Vielleicht bin ich aber genau deshalb gekommen!“
„Nein, nicht letzte Nacht.“
„Arturo, lass mich gehen. Bitte.“ Sie klang nicht mehr wütend, nur noch verzweifelt.
„Nicht bevor ich sicher weiß, dass du keine Dummheiten machen wirst.“
Lillian atmete tief durch, schaffte es aber nicht mehr den Tränenfluss zurückzuhalten. Sie sank auf den kalten Boden und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Lillian…“ Er musterte sie mit einer Mischung aus Schock und Hilflosigkeit, bevor er sich schließlich zu ihr setzte und sie in seine Arme zog. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war es ihr gleichgültig vor anderen zu weinen. Sie presste ihren Kopf an seine Brust und schluchzte hemmungslos. Arturo strich sanft über ihren Rücken. Es tut mir leid. Ich hatte kein Recht, zu fragen. Und noch weniger hatte ich das Recht dich zu einer Antwort zu zwingen.“
Lillian richtete sich langsam auf. Ihre Augen waren geschwollen. Mit heiserer Stimme flüsterte sie. „Mein Leben…mein ganzes Leben…“ Sie hustete. „Mein ganzes Leben ist eine Lüge…“ Lillian erhob sich langsam. „Mein ganzes Leben ist eine verdammte Lüge.“ Wiederholte sie zitternd.
Arturo musterte sie verwirrt und erhob sich ebenfalls.
Lillian wandte sich von ihm ab und blickte auf die verschmutzte Straße vor dem Geschäft. „Der einzig stabile Teil meines Lebens, das einzige, das mich die letzten Jahre überhaupt am Leben gehalten hat - nämlich die Tatsache die Tochter Rosas und Jorges Marquez’ gewesen zu sein - ist mir letzte Nacht genommen worden...zerbrochen, zerbrochen wie die Flasche dort drüben auf dem Gehsteig...sie haben mich belogen. Alle. Die ganze Zeit...all die Jahre...“ Bevor er etwas erwidern konnte, hatte sie die Tür aufgesperrt und war aus dem kleinen Geschäft gelaufen.
#22

Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe...hab jetzt alle Teile nachgeholt und bin wieder einmal restlos begeistert!
Du weißt, dass ich deinen Schreibstil unglaublich finde, ich werde jedes Mal vollkommen in diese Geschichte hineingezogen!
Lilian tut mir wirklich leid, es muss unglaublich hart sein zu erfahren, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen sind.

Ich freue mich auf viele weitere Teile!

Hdl
Nadine

[Bild: alex_fanclub_small.jpg]
sig made by life_of_agony *thx*, [SIZE=1]1.inoff. Alex-Fanclub-Cause he's got fractious hair; NufA; meine FFs:Suburbian Life, Fliegen bedeutet sich fallen zu lassen[/SIZE]

#23

hey selene
die teile waren einfach klasse
aber wer ist nochmal sarah?manchmal komme ich ganz schön durcheinander mit den ganzen namen
lillian tut mir leid...aber ich will wissen, was die großmutter ihr erzählt hatte
rosa ist aber ein schlaues mädchen gewesen....das gespräch war richtig klasse....genauso wie zwischen sarah und ihrer großmutter
und lilly hat mit arturo geschlafen...das hat mich schon ein bissl geschockt...aber die beiden passen zusammen
freu mich schon auf einen neuen teil
mfg lava Cool

[SIZE=2][SIGPIC][/SIGPIC][/SIZE]
Perfect love is rare indeed - for to be a lover will require that you continually have the subtlety of the very wise, the sensitivity of the artist, the acceptance of the saint. [Leo Buscaglia]
#24

hey du!

so jetzt mach ich mal keinen platzhalter Big Grin


die teil waren WOW
einfach genail
du kannst so gut schreiben
dein schreibstil verzaubert einen immer aufs neue

lilian tut mir total leid
es muss hart sein so etwas zu erfahren
ich mag aturo irgendwie
er ist so...wie soll mans ausdrücken irgendwie lieb

aber wer ist nochmal sarah?
Ist das ihre Mutter????

Naja wir werden es wohl erfahren

freu mich ganz dolle auf mehr

gglg noiri

[SIGPIC][/SIGPIC]
Du bist nicht wie ich,doch das ändert nicht,
dass du bei mir bist und ich zuseh' wie du schläfst
#25

Hallo meine Lieben :knuddel:

Tut mir leid, dass ich mich erst so spät melde. War krank und hab mich dann auch noch an der Hand verletzt.

Vielen Dank für eure tollen Feedbacks! Freut mich, dass euch die Teile so gut gefallen haben. :freu: War letzte Nacht so in Schreiblaune, dass ich zwei neue Teile geschrieben habe und diese auch gleich poste. Ich hoffe, sie gefallen euch. Freu mich wie immer über FBs.

Bussi Selene

PS: Zu eurer Frage: Ja, Sarah ist Lillians leibliche Mutter.


9. Teil

Sarah

Stockholm, 1977

Sarah liebte den Hof ihrer Schule. Besonders im Sommer - als die Blätter der Bäume, die Sträucher und die Wiese ein sattes Grün kleidete, und die Blumen in ihrer farbenprächtigsten Tracht zu leuchten schienen - wirkte er wie ein kleines Paradies. Sarah hatte schon einige andere Schulhöfe gesehen und wusste daher, dass diese Gartenanlage alles andere als eine Selbstverständlichkeit war. Auch die anderen Schüler schätzten ihren Ort der Entspannung, denn kaum jemand wagte es Müll einfach auf die Wiese oder ins Gebüsch zu werfen. Sarah mochte den Schulhof eigentlich noch mehr als die richtigen Parks, weshalb sie an manchen Tagen etwas länger blieb um die Vögel zu beobachten oder noch ein wenig zu lesen. War niemand in der Nähe, legte sie sich auch einfach in die Wiese und schloss die Augen. Es war der ideale Ort für ihre Tagträume, denn nirgendwo anders konnte sie besser entspannen.
An jenem Mittwoch hatte man den Schulhof allerdings aufgrund der Vorbereitungen für das große Abschlussgartenfest, welches zwei Tage später stattfinden sollte, abgesperrt. Aus diesem Grund hatte Sarah eingewilligt, ihre Freundinnen nach der Schule in eine neue Eisdiele zu begleiten. Diese hatte erst am Tag zuvor eröffnet und bereits mehr Geld eingenommen als manche anderen nach einem Monat. Woran das gelegen hatte, konnte verschiedene Gründe haben. Einerseits war die Werbekampagne sehr groß aufgezogen geworden, andrerseits lag es wohl an dem günstigen Standort. Gegenüber der Eisdiele befand sich ein Springbrunnen, daneben ein Park. Sie lag außerdem am Kreuzungspunkt der Haupteinkaufsstraßen.
Sarah schleckte lächelnd an ihrem Zitroneneis und beobachtete die Passanten.
Maika war die einzige der Mädchen, welche kein Eis am Stiel, sondern einen großen Eisbecher aß. Sie war trotzdem als erste fertig und tat auch sogleich ihre Meinung kund. „Mädchen, das war das Beste, das ich jemals gegessen habe. Das schwöre ich.“
„Du hast nicht gegessen, du hast geschlungen.“ Verbesserte Svenja spöttisch. „Das war sehr ungesund.“
Lena zuckte mit den Schultern. „Lass sie doch. Jetzt muss sie uns eben zu sehen.“ Sie schloss die Augen und ließ ihr Schokoladeeis übertrieben seufzend auf der Zunge zergehen.
„Habt ihr schon Pläne für den Sommer?“ Erkundigte sich Sarah.
„Ich werde ihn wieder bei meinen Großeltern verbringen.“ Erzählte Maika und rollte mit den Augen.
„Wollte dein Vater nicht mit dir nach London fliegen?“ Lena runzelte die Stirn.
„Tja.“ Maika verzog den Mund und wechselte einen Blick mit Sarah, deren Eltern ebenfalls geschieden waren. „Das macht er auch. Mit seiner Neuen.“
„Er verreist lieber mit ihr als mit dir?“ Svenja schüttelte wütend den Kopf.
„Was soll’s?“ Maika wich den Blicken ihrer Freundinnen aus. „Und was macht ihr?“
„Meine Familie und ich werden wieder nach Italien fahren. Ich freue mich schon sehr darauf.“ Lena strahlte.
„Wir fahren eine Woche aufs Land. Den Rest der Ferien werde ich wohl in einem Zelt vor dem Haus der Eltern Eriks verbringen.“ Svenja kicherte.
Lena und Maika glucksten ebenfalls. „Er ist so süß. Ich wünschte, er würde mir immer diese Blicke zu werfen.“ Schwärmte Lena.
Sarah runzelte die Stirn. Erik war lediglich höflich. Sie hatte ihn einmal zu einem Freund sagen hören, dass er sich von Svenja verfolgt fühlte. Taktvoll wie sie war, behielt sie das jedoch für sich. Svenja schwärmte ohnehin monatlich für einen anderen Jungen aus ihrer Klasse.
„Erzähl uns bloß jedes schmutzige Detail, wenn wir wieder zurück sind.“ Befahl Maika.
Svenja wurde rot. „Jedes Detail. Hach, ich stelle mir jeden Abend vor dem Einschlafen vor, wie es wohl sein wird, wenn seine weichen Lippen meine berühren…“
Lena und Maika wechselten einen kurzen Blick, bevor sie erneut kicherten.
„Ihr seid so kindisch. Was geben wir uns nur immer wieder mit denen ab, Sarah?“
Ihre Freundin zog den Mund zu einem kurzen, unehrlichen Lächeln. Sarah mochte die Mädchen sehr, dennoch hatte sie oft das Gefühl nicht wirklich zu ihnen zu gehören. Besonders Svenja und Lena schienen ihr oft viel zu oberflächlich und zu sehr auf alberne Schwärmereien fixiert. Ihre Mutter hatte sie für diese Gedanken als hochmütig gescholten. Schwärmereien ohne Tiefgründigkeit gehörten zu dieser Altersstufe, wären wichtig für die weiteren Entwicklungsstufen einer jungen Frau. Sollte sie sich deshalb wie Svenja irgendeinen kindlichen Jungen suchen, den sie monatelang aus Spaß anhimmeln und verfolgen konnte? Sarah hatte an solchen Dingen niemals Interesse gehabt. Sie konnte auch keinen Sinn darin erkennen, einem Jungen nachzulaufen, mit dem man in Wirklichkeit sowieso keine Beziehung wollte. Das war es aber wonach sie sich sehnte. Ernsthaft verlieben, eine Beziehung mit einem Jungen beginnen. Die große Liebe treffen. Wenn es passiert, dann erwischt es dich wie ein Blitz. Du weißt, du willst nur ihn und sonst keinen. Sarah kannte diese Stelle ihres Lieblingsbuches in und auswendig. Melissa und Jordan hatten sich auf einem High School Ball kennen gelernt. Er hatte seine jüngere Schwester begleitet, weil diese keinen Begleiter gefunden hatte. Jordan und Melissa hatten sich Hals über Kopf in einander verliebt und bereits am selben Abend gewusst, dass sie den Rest ihres Lebens gemeinsam verbringen wollten. Sarah hoffte, dass es bei ihr genauso sein möge. Ihre Mutter hielt dies für naive Träumerei, weshalb sie aufgehört hatte mit dieser darüber zu reden.
„Vielleicht treffe ich ja meinen Traummann in Italien.“ Lena lächelte verträumt und aß den Rest ihres Eises.
„Schon möglich.“ Svenja lächelte. „Ich bin froh, dass Erik und ich uns bereits gefunden haben.“
„Du hast ja so ein Glück…“ Lena seufzte.
„Hast du mit deinem Vater eigentlich darüber gesprochen, wie sehr dich sein Verhalten verletzt? Handelte es sich um meinen Vater, wäre es sinnlos, aber deiner ist doch bisher immer für dich da gewesen…“ Sarah biss sich auf die Unterlippe. Maika hatte ihnen zuvor deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht darüber reden wollte. Aber sie schaffte es wieder einmal nicht, still zu sein. Ihr lag sehr viel an Maika. Sie konnte ihre Freundin nicht leiden sehen. Aber ihre Mutter hatte Recht, wenn sie sagte, dass man anderen nicht seine Hilfe aufzwingen dürfe.
„Es wäre sinnlos.“ Maika zuckte mit den Schultern. „Dieses Biest hat ihn vollkommen verhext.“
„Das tut mir leid.“ Sarah runzelte die Stirn und drückte die Hand ihrer Freundin. „Wenn du reden möchtest…“
„Danke, aber ich komme klar…“ Maika zwang sich zu einem Lächeln. „Danke trotzdem.“
„Das ist doch selbstverständlich…“
„Mädchen, hört auf zum Trübsal blasen!“ Unterbrach Svenja Sarah. „Der Sommer hat begonnen, die Schule ist so gut wie zu Ende und wir haben noch etwas vor…“ Sie erhob sich freudig.
Lena und Maika taten es ihr gleich. „Einkaufen!“ Erstere klatschte vergnügt in die Hände.
Sarah erhob sich seufzend. Sie war erst am letzten Samstag mit ihrer Großmutter einkaufen gewesen und verspürte nicht das Bedürfnis sich schon wieder in dieser Hitze durch die von Menschenmassen überfüllten Einkaufsstraßen zu drängen. Sarah blickte auf ihre schwarze Armbanduhr und runzelte die Stirn. „Ich habe die Zeit ganz vergessen. Meine Großmutter möchte, dass ich ihr im Garten helfe.“
Svenja blickte sie ungläubig an. „Das ist doch nicht dein Ernst! Vier Geschäfte verkaufen diese Woche Kleidung um die Hälfte!“
Sarah fuhr sich nachdenklich durchs Haar. Sie überlegte einfach ehrlich zu sein. Aber ihre Freundinnen würden wieder spotten, würde sie sagen, dass sie die Gesellschaft ihrer Großmutter beim Einkaufen vorzog. Ilse wartete stets in der Nähe der Kasse oder besah Kleidung für sich selbst, während Sarah sich alleine umsah. Svenja und Lena pflegten es jedoch ihr ständig in ihrer Wahl dreinzureden und sie zu bevormunden. Ihre Freundinnen meinten es gewiss nicht böse, aber Sarah war genervt von diesem Verhalten.
„Ich war bereits am Samstag einkaufen, tut mir leid. Großmama würde toben, würde ich schon wieder Geld ausgeben.“ Sie verschwieg, dass Ilse ihr am Morgen ein paar Kronen mit den Worten Gönn dir was zugesteckt hatte.
Lena schüttelte den Kopf. „Du Arme. Wir wollten morgen Abend ins Kino. Denkst du, dass du zumindest da mit darfst?“
„Ja, das hat mir meine Mutter schon letzte Woche versprochen.“
Svenja nickte zufrieden. „In Ordnung. Dann sehen wir uns morgen in der Schule.“ Sie hackte sich bei Maika und Lena, welche sich noch lächelnd und winkend von ihrer Freundin verabschiedeten, unter und steuerte auf das erste Geschäft zu.
Sarah erhob sich langsam und ließ den Blick über die fröhlichen Gesichter der Passanten schwenken. Warum konnte sie nicht einfach sein wie sie? Oder zumindest sein wie Svenja? Ihre Freundin war ihres Lebens froh und genoss jede Minute in vollen Zügen. Sarah war rastlos, voller Sehnsüchte. Sie suchte nach etwas, das sie selbst noch nicht verstand. Das Wissen es noch nicht gefunden zu haben, stimmte sie oftmals schwermütig. Sarah blickte ein weiteres Mal auf ihre Uhr. Es war halb drei. Weder Ilse noch ihre Mutter Maja würden vor sechs Uhr zuhause sein. Sie beschloss sich noch ein wenig in den Park neben der Eisdiele zu setzen. Sarah schloss lächelnd die Augen während sie die breite Wiese entlang ging. Der Duft des Sommers umgab sie wie ein sanfter Schleier. Sie setzte sich auf eine Bank gegenüber einem kleinen Springbrunnen und zog ihr Lieblingsbuch aus dem Rucksack. Es dauerte nur wenige Minuten als sie die lauschige Ecke des Parks verließ und in Melissas Welt eintauchte.
Nach einer Nacht die wie ein Traum gewesen war, holte mich die Realität auf schmerzhafte Weise ein. Seine Nummer. Ich hatte die Nummer verloren. Das musste ich mir schließlich nach vierstündiger Suche eingestehen. Megan, Megan ist seine Schwester. Soll ich ihr das Geheimnis unserer Liebe offenbaren? Ich hätte seine Nummer in zehn Minuten. Soll ich warten bis er mich anruft? Wird er mich anrufen? Die Liebe. So schön und schmerzhaft zugleich. Sarah seufzte lächelnd. Sie liebte den Beginn der Beziehung Melissas und Jordans sogar mehr als die Handlungsstränge während der gemeinsamen Zeit der beiden. Sarah sog jeden der folgenden Sätze auf als würde sie ihn zum ersten Mal lesen. Und schließlich war sie gekommen. Ihre Lieblingsstelle. Schicksal. Schicksal ist es, das zwei Menschen auf wundersame Weise zusammenführen kann. Es hatte bewirkt, dass sowohl Jordan als auch ich uns zur selben Zeit an derselben Stelle im Washington Square Park befanden. Uns vor dem kleinen Springbrunnen im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme liefen. Keiner von uns benötigte Worte. Unsere Lippen fanden sich und besiegelten das, was unsere Herzen am Abend des Balles bereits gewusst hatten. Unsere ewige Liebe.
„Sarah?“
Sarah fuhr erschrocken hoch.
In den darauf folgenden Jahren würde sie sich oft die Frage stellen, ob alles anders gekommen wäre, hätte sie in diesem Moment nicht ausgerechnet diese Buchstelle gelesen.
„Entschuldige.“ Er lächelte.
Das Mädchen musterte sein Gegenüber errötet.
„Erkennst du mich wieder?“
Sarah war einen Moment so von seinem attraktiven Äußeren und der warmen Stimme gefangen, dass sie die Worte nicht begriff.
Er schmunzelte. „Mein Name ist Eduardo. Wir haben uns letzte Woche kennen gelernt. Du warst mit Freundinnen in Finnland…“
„Hallo…“ Das war alles was sie herausbrachte. Seine beinah goldbraunen Augen hatten sie in einen seltsamen Bann gezogen, aus welchem sie sich nicht lösen konnte. Sie spürte wie ihre Hände feucht wurden und ihr Herz schneller klopfte.
„Darf ich?“
„Was? Natürlich.“ Sie runzelte unsicher die Stirn, als er sich neben sie setzte.
„Ich hoffe, meine Gesellschaft ist dir nicht unangenehm?“
„Was? Nein! Wie kommst du darauf?“ Ihre Stimme wurde heiser. Sie räusperte sich.
„Nun…“ Seine Blicke glitten über ihr Haar. „Du hast nicht angerufen.“
„Entschuldige…ich hatte so viel zu tun…“ Sie wich seinem Blick aus.
Eduardo lachte. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es ist in Ordnung. Ich bin ohnehin erst seit vorgestern hier.“
„Wie…wie lange wirst du noch bleiben?“
„Montagabend geht unser Flug.“
Sie nickte. „Wie gefällt es dir hier bis jetzt?“
Er musterte sie lächelnd. „Sehr, sehr gut.“
Sarah spürte das Glühen ihrer Wangen. „Warst…warst du schon im Nationalmuseum? Es ist toll…“
„Nein, ich habe leider erst sehr wenig gesehen.“ Sein Blick streifte den Rücken ihres Buches.
„Das ist schade. Es gibt hier nämlich viel zu sehen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Das kann ich mir vorstellen.“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr.
Sarah fühlte ein beunruhigendes Gefühl in ihr hochsteigen. Er langweilte sich gewiss mit ihr. Das Buch hatte ihn wahrscheinlich noch zusätzlich abgeschreckt. Es war zwar eine Geschichte über das Erwachsenwerden, der Einband war jedoch sehr kindlich gestaltet.
„Wenn du möchtest, spiele ich morgen deine Stadtführerin. Dafür lädst du mich danach auf eine Pizza ein und erzählst mir von Kolumbien.“ Ähnlich hatte es Melissas Freundin Megan zu dem Collegestudenten Mike gesagt. Sarah ließ das Buch in ihrem Rucksack verschwinden.
Eduardo beobachtete sie lächelnd. „Ich weiß, eine Dame fragt man das nicht. Aber verrätst du mir trotzdem, wie alt du bist?“
Sie schluckte. „Wie alt würdest du mich denn schätzen?“
Er runzelte die Stirn. „Sechzehn? Knappe Siebzehn?“
Sarah glaubte ihr Herzschlag würde für einen Moment aussetzen. „Nicht ganz.“ Sie wich seinem Blick aus. „Kommenden Dezember werde ich fünfzehn…“
Er nickte leicht und betrachtete sie schweigend.
Sarah blickte auf ihre Schuhspitzen und seufzte. Bis Dezember war es noch ein halbes Jahr. Er bereute es gewiss schon, seine Zeit mit einem kleinen Mädchen verschwendet zu haben.
Zögernd hob sie den Kopf. „Verrätst du mir auch dein Alter?“
Eduardo lächelte. „Was schätzt du denn?“
„Siebzehn? Knappe Achtzehn?“
Er lachte. „Ich bin letzten Monat zwanzig geworden.“
„Zwanzig?“ Sie nickte. „Hast du groß gefeiert?“
Eduardo schüttelte den Kopf. „Das übliche große Familienfest. Die Feier mit Freunden holen wir nach der Reise nach.“ Erklärte er knapp.
„Solange du es nachholst.“ Sie lächelte. „Mein zwölfter Geburtstag ist aufgrund der Scheidung meiner Eltern völlig untergegangen. Das stimmt mich bis heute auf eine bestimmte Art und Weise traurig…entschuldige, ich langweile dich bestimmt.“
Eduardo lächelte. „Nein, das tust du nicht. Ich höre dir gerne zu…“ Er warf einen weiteren Blick auf seine Armbanduhr.
Sarah runzelte die Stirn. „Halte ich dich auf?“ Sie versuchte den Druck, der ihr Herz umschloss, zu ignorieren.
„Ich muss bald zurück im Hotel sein. Meine Freunde wollen in irgendein Restaurant gehen.“
Sarah nickte. „Wir haben sehr gute Restaurants. Gleich um die Ecke eures Hotels gibt es ein wunderbares Fischrestaurant.“
„Tatsächlich? Danke für den Tipp.“
„Gern geschehen. Ich werde dann auch gehen. Meine Großmutter möchte, dass ich ihr im Garten helfe.“ Sie wich seinem Blick aus.
Eduardo nickte. „Treffen wir uns morgen um ein Uhr? Oder ist dir das zu früh?“
Sarah musterte ihn verwirrt. Ihr Herz machte einen freudigen Sprung als sie verstand. „Nein. Eins ist sehr gut…“ Sie atmete tief durch.
Er betrachtete sie Stirn runzelnd. „Du wirkst plötzlich so unsicher. Ist alles in Ordnung? Es hat doch nichts mit dem Altersunterschied zwischen uns zu tun? Wir müssen uns nicht wieder sehen, wenn du das nicht möchtest.“
„Was? Nein, ich möchte dich wieder sehen. Das heißt, wenn du das auch willst. Der Altersunterschied ist doch nicht wichtig. Was sind denn schon fünf Jahre und ein paar Monate?“
Eduardo lächelte. „Das freut mich zu hören. Ich möchte dich nämlich auch sehr gerne wieder sehen, Sarah.“
Sarah glaubte einen Moment in seinen Augen zu versinken. „Wo…wo treffen wir uns?“
„Hier?“
Sie nickte. „Das wäre am einfachsten.“
Er erhob sich lächelnd, den Blick immer noch auf sie gerichtet. „Also, dann bis morgen. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.“
Nachdem er gegangen war, kniff Sarah sich zweimal in den Arm um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht geträumt hatte.
#26

10. Teil

Lillian

Spanish Harlem, 2000

Lillian tunkte ihre Zigarette in dem kleinen silbernen Aschenbecher aus und musterte ihre Freundin lächelnd. Elena küsste ihren dreijährigen Sohn Emilio sanft. „Geh wieder spielen, Cariño. Deine Mamá unterhaltet sich nur ein wenig mit Lillian.“ Der Kleine gluckste fröhlich und setzte sich auf die Wolldecke, auf welcher bunte Bausteine verstreut lagen.
Elenas Augen begannen zu tränen, als sie ihren Sohn beobachtete. Sie wohnten in einer winzigen Zweizimmerwohnung oberhalb einer alten Spelunke, von welcher täglich Geschrei und Gepolter durch die dünne Wand nach oben drang. Ihre Familie hatte sich nach der großen Schande von ihr abgewandt. Es gab im Viertel zwar einige Menschen, darunter auch Ana Vasquez, welche sie schon oft unterstützt hatten und dies auch noch immer so weit wie möglich taten, Elena empfand ihre Situation dennoch als hoffnungslos. Sie schlug sich mit oftmals sehr niedrigen Gelegenheitsjobs durch, ihr einziger Lebensinhalt war Emilio. Jeden Abend, nachdem sie ihm einen Gute-Nacht-Kuss gegeben hatte, entschuldigte sich Elena gedanklich bei ihrem Sohn, dass er in so einem Umfeld aufwachsen musste.
„Entschuldige. Ich will dir nicht zu Last fallen. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte…“ Lillian runzelte unsicher die Stirn. Elena hatte weiß Gott andere Probleme als eine verzweifelte Freundin.
Die junge Frau wandte sich Lillian zu und ergriff deren Hand. „Ich bin sogar heilfroh, dass du gekommen bist. Ana hat schon fünfmal verzweifelt angerufen, Arturo zweimal.“
Lillian seufzte.
Elena musterte ihre beste Freundin nachdenklich. Es war noch niemals Lillians Stärke gewesen über Gefühle zu sprechen. Es schien oftmals gerade so, als hätte sie Angst davor diese überhaupt zu haben. „Erzählst du mir, was passiert ist?“
Lillian starrte auf die zerkratzte Fensterscheibe. Der Druck auf ihrem Herzen verstärkte sich.
„Großmutter, Ana, wollte keinen Tee…“ Sie blickte ihrer Freundin in die Augen.
Elena runzelte die Stirn. „Muss ich das nun verstehen?“ Plötzlich weiteten sich ihre Augen. „Sie ist doch nicht krank?“
„Sie ist gesünder denn je.“
„Aber…“ Elena fixierte nachdenklich einen imaginären Punkt auf dem kleinen Holztisch, betrachtete schließlich wieder die emotionslosen Gesichtszüge Lillians. „Was war denn mit dem Tee?“
„Ich wollte uns Tee machen und über meine Mutter sprechen. Ich wollte wissen, wie sie in meinem Alter war. Wie die achtzehnjährige Rosa gelebt hatte.“
„Wollte sie nicht über deine Mutter sprechen? Es setzt ihr immer noch sehr zu. Das musst du verstehen, Lillian.“
Ohne darauf einzugehen fuhr Lillian fort. „Ich hatte so viele Fragen am Herzen, die ich endlich stellen wollte. Die Lieblingsfarbe meiner Mutter, ob sie das Tanzen liebte. Wer ihre Freundinnen waren. Ob sie tatsächlich immer in die Flamenco Bar zum Tanzen gingen. Was meine Mutter gerne getrunken, gegessen hatte. Was sie über Politik, Religion und die Regierung dachte. Ich wollte jedes Detail ihres früheren Lebens wissen. Dann wollte ich meine Erinnerungen mit Großmutter teilen und auffrischen. Wie schön Mamá war, wie graziös sie getanzt hatte. Wie einmalig sie Geschichten erzählen konnte. Ich wollte über unsere ausgiebigen Sonntagfrühstücke sprechen. Darüber wie schön es war mit Mamá und Papá nach dem Kirchbesuch im Central Park spazieren zu gehen. War das Wetter schlecht, gingen wir ins Kino…“ Lillian holte Luft. „Danach besuchten wir stets die beste Pizzeria Brooklyns. Ich wollte meiner Großmutter erzählen, wie wunderbar es war mit meinen Eltern abends im Bett zu fernsehen und dabei einzuschlafen. Papá trug mich danach immer ganz sanft in mein Bett zurück oder ließ mich bei ihnen übernachten…“ Sie senkte den Blick und hielt einen Moment inne.
Elenas Augen begannen zu tränen. Ihr Blick schweifte einen Moment über Emilio.
„Samstagmorgen schauten wir stets Zeichentrickfilme im Fernsehen. Mamá liebte die Cartoons eben so wie ich. Papá machte uns währenddessen Frühstück und brachte es uns zum Tisch vor der Fernsehcouch. Er setzte sich zu uns und las Zeitung. Wir sollten nicht denken, dass er sich Kindersendungen ansah. Ich ertappte ihn jedoch hin und wieder, wie er von der Zeitung hochsah. Danach ging Mamá meist ins Fitnessstudio oder traf Freundinnen. Papá und ich fuhren nach dem Frühstück manchmal Einkaufen - ich liebte es mit ihm einzukaufen - und gingen danach in eine Eisdiele oder in eine Konditorei um uns den Bauch mit ungesundem Zeug vollzuschlagen.“ Lillian blickte ihrer Freundin in die Augen. „Der Anruf…dieser Anruf…ich weiß nicht mehr, was genau meine Babysitterin sagte. Tags darauf brachten sie mich nach Spanish Harlem zu Großmutter. Ich hatte wochenlang nur geweint - weder geschlafen, noch gegessen. Die Erinnerungen, die Erinnerungen waren es, die mich schließlich am Leben gehalten haben. Und als ich endlich die Kraft gefunden hatte, um über diese zu sprechen, teilte mir meine Großmutter mit, dass diese Lügen wären. Lügen. Wie mein ganzes Leben eine einzige lange Lüge ist.“ Lillian begann zu zittern.
Elena ergriff ihre Hand und drückte diese. „Wie meinst du das? Was hat sie dir gesagt?“
Lillian blickte ins Leere. „Meine Eltern…“ Ihre Stimme stockte. „…hatten wenige Jahre nach ihrer Hochzeit erfahren, dass sie niemals eigene Kinder haben könnten. Mamás…Rosas…“ Sie schloss die Augen für einen Moment. „…Eierstöcke waren unterentwickelt…“ Lillian hob den Kopf.
Elena musterte ihre Freundin unsicher. Sie wollte die richtigen Worte finden, fand sie aber nicht.
„Ich musste beinahe achtzehn Jahre alt werden um zu erfahren, dass ich adoptiert bin. Jahrelang hatten sie mir gepredigt, wie wichtig Ehrlichkeit wäre, hatten mich jedoch selbst belogen! Mein ganzes Leben ist eine Lüge. Und dieses Geheimnis musste mir meine Großmutter ausgerechnet kurz vor der Abschlussprüfung mitteilen! Warum ist sie nicht einfach auf meine Fragen eingegangen und hat weiterhin geschwiegen?“
Elena zog sie in ihre Arme. „Lillian. Es ist gewiss nicht einfach mit so einem Geheimnis zu leben. Auch wenn es möglicherweise der schlechteste Zeitpunkt war, sie musste es dir irgendwann sagen.“ Sie strich ihr sanft über den Rücken. Emilio sah besorgt von seiner Mutter zu Lillian. „Alles in Ordnung, mein Schatz.“ Elena wandte sich wieder an ihre Freundin. „Aber es stimmt nicht, was du sagst. Es war nicht alles eine Lüge. Deine Eltern liebten dich über alles. Ihr hattet eure unvergesslichen Rituale. Das gemeinsame Lesen, Fernsehen, Kino gehen, Einkaufen. Eure Gespräche. Eure Gefühle. Sie waren real. Sie sind real, Lillian. Ob du nun ihr leibliches Kind bist oder nicht, sie waren dir die besten Eltern und du warst ihnen die beste Tochter…“ Elena atmete tief durch und senkte die Stimme, damit Emilio sie nicht hören konnte. „Es gibt keinerlei Zweifel, dass meine Eltern mich auch gezeugt haben. Aber Mutter und Vater sind sie mir dennoch nie gewesen. Lillian, du hattest Glück bei so unglaublichen Menschen aufwachsen zu dürfen. Sie haben dir nicht gesagt, dass du adoptiert bist. Das war ein Fehler, sie hätten es tun müssen. Aber vielleicht hätten sie es auch noch getan. Verzeih ihnen. Verzeih deiner Großmutter. Sie haben es dir gewiss aus keiner böswilligen Absicht heraus so lange verschwiegen.“
Lillian löste sich von ihrer Freundin. Ihre Augen waren gerötet. „Warum? Warum haben sie gelogen? Ich verstehe es nicht! Und wer sind meine leiblichen Eltern? Warum wollten sie mich nicht? Bin ich nur das verhasste Unglück einer feuchtfröhlichen Nacht? Die Jahre in Brooklyn waren die einzigen, in welchen ich mich wirklich zugehörig fühlte. Hier haben sie mir von Anfang an zu verstehen gegeben, dass ich nicht hier her gehöre. Nun habe ich das Gefühl nicht einmal nach Brooklyn - zu den Menschen, die ich Mamá und Papá nannte - gehört zu haben. Wer bin ich, Elena?“
„Wer du bist, Lillian? Eine wundervolle, junge Frau, die immer für mich da gewesen ist. Meine beste Freundin. Anas geliebte Enkeltochter. Es ändert sich doch nichts, Lillian…“
Lillian erhob sich seufzend. „Ich kann nicht einfach so weiter machen, als wäre nichts geschehen.“ Ihre Stimme überschlug sich.
„Wohin willst du?“ Elena musterte sie besorgt und erhob sich ebenfalls. Emilio blickte erschrocken hoch. Seine Augen waren neugierig geweitet, als er auf die beiden Frauen zu tapste.
„Ich werde nachhause gehen…Ana - Großmutter und ich müssen noch reden.“
Elena nickte. „Rufst du mich an? Ich würde mich freuen, würdest du uns morgen beim Abendessen Gesellschaft leisten. Emilio würde sich auch freuen, nicht wahr, Cariño?“
„Ja, Lillian soll zum Essen kommen!“ Er klatschte freudig in die Hände.
Lillian strich ihm lächelnd durchs Haar. „Wenn das so ist, werde ich natürlich kommen.“
Emilio strahlte über das ganze Gesicht. „Spielen wir dann etwas?“
„Versprochen.“
Elena begleitete ihre Freundin bis zum Stiegenabgang. „Warte drinnen auf mich!“ Rief sie ihrem Sohn zu, welcher ihnen folgen wollte.
„Er ist ein kleiner Engel.“ Lillian lächelte.
„Ja. Wie sein Vater.“ Elenas Augen bekamen für einen Moment einen traurigen Ausdruck. Schließlich fing sie sich wieder.
„Wir alle vermissen ihn…“ Flüsterte Lillian.
Elena ging nicht darauf ein. „Bis morgen. Und sei nicht zu streng zu ihr. Deine Großmutter liebt dich.“
Lillian umarmte ihre Freundin kurz und verließ das alte Gebäude.

Ana umfasste den alten Rosenkranz ihrer Großmutter fester. Die Holzkugeln schmerzten auf ihrer Haut. Sie schloss die Augen und ignorierte die Tränen, welche über ihre Wangen liefen. „Heilige Mutter Gottes, bring mir bitte mein kleines Mädchen zurück.“ Flehte sie.
Sie hörte kaum, wie die Tür geöffnet wurde. „Großmutter?“ Lillians Stimme zitterte.
Der Rosenkranz schlug auf dem harten Boden auf. „Lillian!“ Ana glaubte die Steine zu hören, welche sich von ihrem Herzen lösten. Sie schloss ihre Enkeltochter in die Arme. „Wo warst du denn? Ich bin fast umgekommen vor Angst…“
Lillian löste sich aus der Umarmung. „Können wir uns setzen?“
Ana nickte seufzend. „Es tut mir leid, mein Kind. Es tut mir leid, dass ich dich so damit überfallen habe...“ Sie ließ sich langsam auf die Couch sinken.
Lillian hob den Rosenkranz auf und setzte sich ebenfalls. Sie reichte ihn ihrer Großmutter. „Warum? Warum habt ihr es mir nicht gesagt?“
Ana betrachtete die emotionslosen Gesichtszüge ihrer Enkeltochter. Ihre Augen begannen zu tränen. „Rosa hatte kaum gehen gelernt als sie schon eigene Kinder wollte. Es war ihr größter Wunsch an das Leben. Sie konnte es niemals ganz verkraften, empfand ihren Körper als fehlerhaft und abstoßend. Aber dich, mein Kind, hätte sie nicht mehr lieben können, wärest du ihre leibliche Tochter gewesen. Du warst ihr Ein und Alles. Sie hat dich immer als Geschenk des Himmels bezeichnet. Rosa hatte stets von einer perfekten Familie geträumt. Vielleicht war es das, was sie so lange zögern ließ, die Wahrheit zu sagen. Sie war so stark, aber auch so schwach. Vielleicht hätte sie es dir auch gesagt, wenn du älter geworden wärest. Ich weiß es nicht. Aber eines kann ich dir versichern, Rosa und Jorge haben dich mehr als alles andere geliebt, hätten ihr Leben für dich gegeben. Ich liebe dich genauso, mein Engel. Ich bin eine schwache Frau, welche schon viele schlimme Erfahrungen gemacht, schon zu viele Menschen verloren hat. Ich hatte Angst, es dir zu sagen. So dumm war ich. Es tut mir leid. Ich hätte es dir früher, viel früher, sagen müssen. Aber wenn die Jahre vergehen, kannst du es immer weniger.“
„Warum gerade jetzt?“
„Du wirst bald achtzehn, bist kein Kind mehr. Und ich werde immer älter. Das Schweigen hat mich von Jahr zu Jahr immer mehr belastet. Gestern habe ich endlich die Kraft gefunden darüber zu sprechen. Vielleicht weil du dich mir zum ersten Mal seit langer Zeit ein wenig geöffnet hast. Verzeih mir bitte. Verzeih deinen Eltern.“
Lillian fixierte einen imaginären Punkt auf der Wand. „Darf ich die Adoptionsunterlagen sehen?“ Fragte sie schließlich.
Anas Augen begannen zu tränen. „Natürlich.“ Gerade als sie sich erhoben hatte um zu dem kleinen Schrank in ihrem Zimmer zu gehen, klopfte es an der Tür. Ana näherte sich Stirn runzelnd. „Wer ist da?“ Rief sie.
„Señora Vasquez, entschuldigen Sie bitte die Störung, ich…“
Sie warf Lillian einen kurzen Blick zu, diese nickte. Ohne ihn aussprechen zu lassen, öffnete Ana die Tür und begann sogleich. „Es ist Sonntagabend. Das bleibt eine Ausnahme.“ Sie deutete ihm herein zu kommen.
„Natürlich. Vielen Dank, Señora.“ Arturo konnte die Erleichterung nicht verbergen, welche er bei Lillians Anblick verspürte.
Ana warf ihrer Enkeltochter einen kurzen Blick zu. „Ich suche einstweilen nach dem Dokument.“ Mit diesen Worten verschwand sie in ihrem Zimmer.
Arturo setzte sich neben Lillian. Diese wich seinem Blick aus. „Du hattest es ja heute Morgen ganz schön eilig. Ich habe beinahe mächtige Selbstzweifel bekommen.“
„Mir ist im Moment nicht nach Scherzen zu Mute.“ Lillian betrachtete das Muster der alten Vase, welche auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa stand.
„Gut. Mir nämlich ebenso wenig.“ Seine Stimme hob sich. „Wie konntest du das tun?“
Lillian wandte sich ihm zu und zog die Stirn kraus. „Ich brauchte lediglich Zeit für mich. Was dachtest du denn, dass ich tun würde? Mich vor die nächsten U-Bahngleise schmeißen? Würdest du mir so etwas Dummes tatsächlich zu trauen? Was, wenn ich so etwas überleben würde? Dann wäre ich für immer schwer behindert!“
„Du treibst mich noch in den Wahnsinn! Du hättest dich sehen müssen. Du warst vollkommen verzweifelt. Ich hatte wirklich Angst, du würdest dir etwas antun. Ich habe dich noch nie so erlebt.“
„Das wirst du auch nicht mehr. Versprochen.“ Sie wandte sich wieder ab.
Er schüttelte den Kopf. „Lillian, ich will dir doch nur helfen. Du bist gestern zu mir gekommen, weil du mich gebraucht hast. Ich möchte für dich da sein. Du solltest wissen, dass wir über alles sprechen können.“
„Hör auf damit, Arturo!“ Sie funkelte ihn wütend an. „Hör auf diese Nummer abzuziehen! Du musst nicht den Seelenklempner für mich spielen, nur weil wir hin und wieder Zeit miteinander verbringen!“
„Warum bist du so wütend auf mich?“
„Weil du es einfach nicht akzeptieren willst, dass ich im Moment nicht darüber sprechen kann.“
„Es tut mir leid.“ Er ergriff ihre Hand. „Lass uns über etwas anderes sprechen. Ich werde nicht mehr mit diesem Thema beginnen. Sollte es wieder aufkommen, wird das von deiner Initiative ausgehen.“
Sie seufzte leise und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. „Weißt du, was ich wirklich hasse? Dass du immer dann, wenn ich so zickig bin, so furchtbar lieb zu mir bist.“
„Wir müssen uns stets ausgleichen. Außerdem weiß ich, wie sehr dich das quält und das bereitet mir eine gewaltige Freude.“ Er zog sie an sich.
„Du bist ein Sadist.“ Sie löste sich aus seinen Armen. „Wie war die Feier?“
„Nach Elenas Anruf wieder gewohnt langweilig.“
„Hat Yolanda sich wenigstens amüsiert?“
„Oh ja, Sie hat sich mit meiner Mutter über die hohe Kunst der Stickerei unterhalten.“
Lillian runzelte die Stirn. „Du solltest aufpassen, sonst sucht deine Mutter mit ihr bald das Hochzeitskleid aus.“
„Das trau ich ihr sogar zu.“ Arturo seufzte genervt.
Sie wich seinem Blick aus. „Ich dachte immer, du könntest Yolanda nicht ausstehen. Warum wolltest du gestern ausgerechnet mit ihr ausgehen?“
„Lillian, ich dachte wir hätten dieses nervende Thema abgehackt?“
„Ja, natürlich. Entschuldige.“ Sie blickte auf ihre Zehenspitzen. „Ich kann sie nur einfach nicht ausstehen.“ Sie wandte sich ihm wieder zu. „Außerdem ist sie eine gemeingefährliche Schlange, welche nicht eher locker lassen wird, bist du sie zu deiner Freundin oder gar Verlobten machst.“
Arturo spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. „Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein.“ Er küsste sie kurz. „Sag mal, hast du eigentlich schon mal darüber nachgedacht…“
„Da ist es. Entschuldige, es war ganz unten…“ Ana hielt einen Moment inne und warf Arturo einen misstrauischen Blick zu. Dieser vergrößerte sogleich die Distanz zwischen Lillian und ihm.
„…im Schrank.“ Beendete Ana den Satz.
„Danke, Großmutter.“ Lillians Herzschlag wurde schneller. Sie runzelte unsicher die Stirn.
„Ist es dir lieber, wenn ich gehe?“ Fragte Arturo leise.
Sie nickte leicht. „Ich komme morgen nach der Schule bei dir vorbei, okay?“
„Okay.“ Er küsste sie auf die Wange und erhob sich. „Einen schönen Abend noch, Señora Vasquez.“
Ana nickte nur flüchtig und beobachtete Lillians Gesichtszüge.
„Willst du es wirklich sehen?“ Fragte sie ihre Enkeltochter, nachdem Arturo die Wohnung verlassen hatte.
Lillian atmete tief durch und nickte schließlich.
Ihre Großmutter setzte sich neben sie und reichte ihr das Dokument. Das Papier war beidseitig bedruckt und befand sich in einer dünnen Glassichtfolie.
Lillians Hände zitterten. Vor vierundzwanzig Stunden war ihre Welt noch in gewohnte Bahnen verlaufen. Lillian hatte ihr Leben akzeptiert und ihre Vergangenheit idealisiert. Und nun saß sie wie so oft gemeinsam mit Ana auf dem alten Sofa. Nur hielten ihre Hände diesmal den Beweis für das Brechen der letzten Hoffnung, des letzten Lebenshauches ihres Herzens. Schwarz auf weiß, in einer dünnen Glassichtfolie. Die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Lillian bemerkte es nicht, als Ana ihre Tränen verwischte. Buchstaben. Bis jetzt waren Buchstaben lediglich Elemente gewesen, die ein Wort bildeten. Worte bildeten Sätze und diese Texte. Nie war sich Lillian der Macht von Buchstaben so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Sie spürte wie der Druck ihr die Luft zum Atmen nahm. Ihre Gedanken wurden verschwommen. Sie hörte weder die Geräusche von der Straße noch Ana, welche leise auf sie einsprach. Ihre Augen fixierten die Worte. Sie war unfähig diese zu schließen oder abzuwenden. 15.12.1982 An diesem Tag war sie von Rosa und Jorge Marquez adoptiert geworden. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits ein halbes Jahr alt gewesen.
Lillian überflog die restlichen, sehr dürftigen, Informationen.
„Deine Eltern haben sich viele Jahre lang um die Adoption eines Kindes bemüht. Ihr Antrag wurde immer ewig aufgeschoben oder gleich abgelehnt. Eine Freundin Rosas berichtete dann von diesem Kranken- und Waisenhaus. Dort wurden oft Kinder aus sehr armen Verhältnissen abgegeben. Vor allem aus diesem Grund machten sich deine Eltern damals auf die lange Reise um diese Institution aufzusuchen. Sie wollten einem Kind ein besseres Leben ermöglichen. Es dauerte ein Jahr bis sie den Anruf erhielten, dass ein kleines Mädchen von sechs Monaten abgegeben worden war. Sie haben dich schon zwei Wochen später adoptiert. Das war Schicksal, Cariña. Ich weiß noch, als sie mich einluden um mir meine Enkeltochter vorzustellen...“ Anas Augen tränten. „Ich schwöre dir, dass ich deine Eltern noch nie so glücklich gesehen hatte. Und ich war es ebenso, bin es bis heute.“ Sie strich Lillian sanft über die Wange. „Die Leute reden immer, das weißt du. Rosa wollte nicht, dass über unsere Familie noch mehr gesprochen wird, weshalb sie kaum jemanden von der Adoption erzählte. Natürlich wussten es die Leute in Brooklyn, aber hier erfuhr es beinahe niemand, weshalb auch die unterschiedlichsten Gerüchte aufkamen. Es tut mir so leid, dass du es so spät erfahren musstest.“
Lillian strich über die Folie und las sie erneut. Die Informationen blieben dieselben. Eltern unbekannt. Sie seufzte. „Keine Namen. Wer sind meine leiblichen Eltern? Und wer ist diese Oksana Miller, welche unten vermerkt ist? Das ganze kommt mir so unseriös vor…dieses ganze Dokument!“
Ana schüttelte den Kopf. „Deine Fragen kann ich dir leider nicht beantworten. Ich kann dir nur sagen, dass es hier in den Staaten noch einige Monate dauerte, bis die Adoption als rechtsgültig anerkannt wurde.“
Lillian seufzte leise. Ihr Blick strich über die Telefonnummer unter der Adresse der Institution. Falls es diese überhaupt noch gab, war das ihre einzige Möglichkeit.
#27

oi...ist das wieder viel

ich mal erstmal nen platzhalter

sooo
endlich komme ich dazu dir fb zu geben

die beiden teile waren genial
ich liebe deine art zu schreiben. sie nimmt einen jedesmal mit

Ich finde Sarah toll. Ihr Charakter klingt sehr interessant.

Lillian tut mir leid. Es muss schlimm sein das alles zu erfahren. Ich hoffe sie erzählt Arturo irgendwann was los ist Smile

ICh werd jetzt mal die neuen teile lesen und dann kriegst du noch mehr fb

gglg noiri

[SIGPIC][/SIGPIC]
Du bist nicht wie ich,doch das ändert nicht,
dass du bei mir bist und ich zuseh' wie du schläfst
#28

Hallo ihr Lieben :knuddel:

@Noir-Girl:
Zitat:oi...ist das wieder viel
*gg* Ja, so endlos lange Teile sind ein Markenzeichen von mir Wink
Aber die nächsten beiden sind zur Abwechslung mal sehr kurz.
Zitat:ich mal erstmal nen platzhalter
Ok, freu mich schon auf dein Feedback Smile

@alle: Obwohl ich nicht gerade das Gefühl habe, dass an dieser Geschichte großes Interesse besteht, stelle ich zwei neue Teile rein. Bin aber ehrlich gesagt unschlüssig, ob ich die zukünftigen Kapiteln überhaupt noch in diesem Forum posten werde. Würd mich sehr freuen, eine Rückmeldung und Feedback von den noch interessierten Lesern zu bekommen. Freue mich, wie gesagt, genauso über konstruktive Kritik wie über Lob.

Bussi Selene



11. Teil

Boston

Oksana schenkte sich etwas Rotwein nach und sank auf den weichen Lehnstuhl im Wohnzimmer. Sie griff nach der Fernbedienung für die Musikanlage, welche auf dem kleinen Marmortisch lag. Die sanften Klänge klassischer Musik brachten ihren Körper zu entspannen. Sie schloss die Augen. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Die Arbeit im Krankenhaus machte ihr immer mehr zu schaffen, obwohl sie diese gleichzeitig liebte. Oksana war nun achtunddreißig Jahre alt und hatte ihren Traum, eine eigene Praxis zu eröffnen, längst aufgegeben. Sie hatte bereits in jungen Jahren als Art Assistentin in einem Krankenhaus gearbeitet, tat es nun als Ärztin immer noch. Dabei war eines ihrer Hauptmotive ihr Heimatland zu verlassen und in die Staaten zu gehen, die Hoffnung auf bessere Chancen eine eigene Praxis zu eröffnen, gewesen. Die Patienten vertrauten ihr und liebten sie, das gab ihr täglich neuen Antrieb. Dennoch blieb diese kleine Schwermut, welche nicht einmal Alex mit seinen aufmunternden Worten zu lindern vermochte. Ihr geliebter Ehemann, welcher ihr ohne zu zögern in das große Land gefolgt war, versicherte ihr beinahe täglich wie jung und talentiert sie wäre, und dass sie ihre Chance schon noch bekommen würde. Oksanas Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. Sie hatte Alex vor über achtzehn Jahren in dem Krankenhaus, in welchem ihre Mutter damals gearbeitet hatte, kennen gelernt. Er hatte neue Computer für die Datenbank installiert. Sie war dazu aufgefordert worden ihn mit Wasser und Gebäck zu versorgen sowie sich einige technische Fakten erklären zu lassen. Nun waren sie seit fünfzehn Jahren verheiratet und lebten in einem schönen Bostoner Vorort.
Oksana warf einen Blick auf die große Standuhr. Es war bereits nach neun Uhr. Alex hatte vor zwei Stunde angerufen, dass die Besprechung noch etwas länger dauern würde. Seine Stimme hatte einen müden und genervten Unterton gehabt. Oksana hatte ihn ein wenig besänftigt und ihn an den nahe bevorstehenden Urlaub erinnert. Nach dem Telefonat hatte sie das Essen wieder ins Rohr gestellt und die Kerzen ausgeblasen. Kurz darauf hatte das Telefon erneut geklingelt. Es war Marina, eine alte Freundin und Kollegin aus der Heimat gewesen. Sie rief einmal wöchentlich an um über alte Zeiten zu sprechen und Oksana zu fragen, wann sie denn nun endlich zu Besuch kommen würde. Diesmal hatte ihr Anruf jedoch einen anderen Grund gehabt. Oksana hatte geglaubt den Boden unter den Füßen zu verlieren, als sie diesen erfahren hatte.
Das energische Zuschlagen der Haustür riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaltete die Musik aus und erhob sich eilig.
„Oksana, Liebes. Es tut mir leid…“ Alex wirkte gestresst und müde.
Oksana stellte das Glas Rotwein ab und umarmte ihn. Augenblicklich schien ein großer Teil seiner Last abzufallen. Er zog sie lächelnd an sich und küsste sie. „Ich hätte schon längst aufgegeben, gäbe es dich nicht.“ Flüsterte er dankbar.
Sie löste sich sanft aus seinen Armen und blickte ihn streng an. „Sag so etwas nicht.“
Alex fuhr ihr durchs Haar. „Wenn es doch stimmt. Mir wird jeden Tag erneut bewusst, was für ein Glück ich doch mit meiner wundervollen und schönen Frau habe.“
Oksana lachte. „Hör auf. Sonst werde ich noch rot wie ein kleines Schulmädchen. Möchtest du Wein?“ Sie kannte die Antwort schon längst und holte ein zweites Glas aus der Vitrine.
Alex beobachtete lächelnd, wie sie ihm Wein einschenkte und das Glas reichte. Die harten Jahre hatten Oksana nichts von ihrer Anmut genommen. Trotz der langen gemeinsamen Zeit konnte er sich nicht an ihr satt sehen. Das schlechte Gewissen und das Gefühl, dass er sie eigentlich gar nicht verdient hatte, überschatteten die Gefühle des Glücks jedoch immer noch.
Er schüttelte den Kopf als würden damit auch diese Gedanken von ihm abfallen und nippte an seinem Wein.
„Ich werde das Essen aufwärmen.“ Oksana wollte schon in die Küche gehen, als er sie sanft festhielt.
„Das werde ich dann machen. Setzen wir uns ein paar Minuten.“
Sie lächelte und folgte ihm auf die große Ledercouch.
Alex musterte sie prüfend. Oksana versuchte stets fröhlich zu sein, wenn er einen anstrengenden Tag gehabt hatte. Er spürte jedoch, dass etwas passiert sein musste.
„Wie war denn dein Tag, Liebste?“
Sie versuchte immer noch zu lächeln. „Es gab viel Arbeit.“
Alex nickte und nahm ihr das Glas aus der Hand. Er stellte beide Weingläser auf den Tisch. „Ich bin so egoistisch. Zuerst muss ich unseren Urlaub schon wieder um eine Woche verschieben, dann lasse ich dich erneut mit dem Essen warten und jetzt bin ich noch nicht einmal fähig zu erkennen, dass auch du einen schlimmen Tag hattest.“ Seine Hände wanderten zu ihrem Nacken und begannen diesen sanft zu massieren.
Sie schloss lächelnd die Augen. „Du bist der Beste.“ Alle Lasten schienen sich unter seinen Händen für einen Moment in Luft aufzulösen.
„Oksana, war heute noch irgendetwas außer der vielen Arbeit?“
Sie seufzte leise. „Marina hat angerufen…“
„Geht es ihr gut?“ Alex interessierte es in Wirklichkeit nicht, wie es der Freundin Oksanas ging. Hätte es in seiner Entscheidungsgewalt gelegen, gäbe es nun nichts mehr, was sie beide mit ihrem früheren Leben verbinden würde.
„Ja…ich denke schon. Oh Alex, ich habe sie nicht einmal gefragt, wie es ihr geht!“
Alex seufzte innerlich. Marina nervte ihn schon seit er sie damals kennen gelernt hatte. Oksana war einfach zu gut für diese Welt. „Lade sie doch mit ihrer Familie über Weihnachten zu uns ein, wenn du möchtest.“ Schlug er schließlich vor.
„Das wäre wunderbar.“ Sie lächelte. „Danke.“
„Wenn du glücklich bist, bin ich es auch.“
Oksanas Miene änderte sich plötzlich. Sie zog die Stirn kraus und atmete tief durch.
„Was hast du denn, mein Engel? Ist etwas passiert?“ Alex musterte sie prüfend. Wie immer wenn sie sich minutenlang vollkommen vor ihm verschloss, spürte er eine Angst in sich aufsteigen. Er hatte immer gewusst, dass ihm sein Glück nicht für immer vergönnt sein würde.
„Eine junge Frau hat heute Nachmittag in dem Krankenhaus angerufen, in dem ich früher arbeitete und sich nach mir erkundigt.“
„Tatsächlich. Wer denn?“
„Marina hat ihr meine Nummer gegeben. Wahrscheinlich wird sie mich in den nächsten Tagen anrufen…“ Oksana begann zu zittern, worauf Alex sie in die Arme schloss.
„Was will sie von dir?“
Der Druck auf ihrem Herzen begann ihr zunehmend die Luft zu nehmen. „Ihr Name ist Lillian Marquez. Sie wohnt in New York City…“
„Kennst du sie von früher?“
„Sie war noch ein Baby, noch kein halbes Jahr alt. Sie…sie war eines…“ Sie hielt einen Moment inne. „…dieser Babys.“
Alex nickte. „Aber was will sie von dir? Alle Daten befinden sich auf den Computern im Krankenhaus…“
Oksana kniff die Augen zusammen. Tränen rannen über ihre Wangen.
„Liebes, was hast du denn?“ Er hob ihr Kinn und verwischte die Tränen.
„Ich…ich habe niemals die verzweifelten Augen ihrer Mutter vergessen. Über Jahre habe ich mir die Frage gestellt, was ihr wohl zugestoßen sein musste…und was danach mit ihr passiert ist. Oh Alex…“ Sie presste den Kopf an seine Brust. „Da lag so viel Angst in ihren Augen. Diese Augen haben mich jahrelang in meinen Träumen verfolgt. Vielleicht war das einer der Gründe warum ich so schnell weg wollte von meiner Heimat.“
„Wann war das? Wann ist ihre Mutter zu euch gekommen?“
„1982. Im November 1982.“
„Du hast mir nie davon erzählt.“
„Ach Alex, ich hatte es ihr versprochen. Sie wollte anonym bleiben und verschwand so schnell wie sie gekommen war. Es schien als…als flüchtete sie vor jemanden. Aber sie gab mir einen dicken Umschlag. Für den Fall, dass ihre Tochter eines Tages nach ihr suchen sollte. Das…das Dokument haben wir gefälscht…viele Dokumente wurden damals gefälscht…es wurde jedoch mein Name vermerkt. Damit sie zumindest mich finden konnte. Ich weiß, es klingt furchtbar, aber ich hatte inständig gebeten, dass sie mich niemals suchen möge. Was…was soll ich ihr denn sagen?“ Oksana schluchzte. „Ich weiß doch nichts.“
„Hast du diesen Umschlag noch?“ Fragte er ruhig.
Sie atmete tief durch. „Ja. Ich hätte es mir nie verziehen, hätte ich ihn verloren.“
„Okay. Dann triffst du dich mit ihr und gibst ihn ihr. Mehr kannst du nicht für sie tun.“ Alex strich ihr sanft über die Wange.
„Ich hätte aber vielleicht mehr für ihre Mutter - und somit auch für sie - tun können. Wir…wir haben sie einfach gehen gelassen. Ich hätte sie daran hindern müssen…“
„Was hättest du denn machen wollen? Sie zwanghaft im Krankenhaus festhalten? Sie hatte gewiss Gründe für ihr Verhalten. Ihr habt alles für ihre Tochter getan, was ihr konntet. Du hast dir nichts vorzuwerfen, Oksana. Rein gar nichts.“ Er strich ihr beruhigend über den Rücken.
„Ein Teil meines Herzens weiß das. Der andere macht mir jedoch noch immer große Vorwürfe.“
„Oh Oksana…“ Er küsste sie sanft auf die Wange. „Du kannst nicht jeden retten. Außerdem weißt du doch gar nicht, wie es ihrer Mutter heute geht. Vielleicht hat sie irgendwo ein neues Leben beginnen können. Weißt du etwas über den Vater des Mädchens?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“
Alex seufzte leise und küsste sie. „Was haltest du davon, wenn ich unser Essen aufwärme und dir, nachdem wir gegessen haben, ein heißes Bad einlasse?“
Oksana lächelte leicht. „Das klingt wundervoll. Danke.“ Sie umarmte ihn.
Er drückte sie nochmals kurz fest an sich, bevor er sich aus ihren Armen löste. „Ich hole dich dann, wenn alles fertig ist. Möchtest du Musik hören?“
„Ja, danke.“
Er erhob sich und schaltete die Musikanlage ein. „Bevor ich es vergesse: Ich soll dich herzlich von James grüßen. Seine Mutter hat gesagt, sie hätte sich bei noch keiner Ärztin so gut aufgehoben gefühlt.“
Der Gedanke an die ältere Mrs. Cooper zauberte ein Lächeln auf Oksanas Lippen.
Alex warf seiner Frau noch einen letzten Blick zu, bevor er in die Küche ging. Dort fiel schließlich die Maske von ihm herab. Er sank auf die Küchenbank und seufzte schwer. November 1982. Hallten die Worte Oksanas wider. Handelte es sich hier nur um einen Zufall? Lediglich um einen, zugegebenermaßen, sehr merkwürdigen Zufall? Alex zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und musterte es unentschlossen. Auch diese Sache würde letztendlich nicht in seiner Entscheidungsgewalt liegen.


12. Teil

1981


Meine liebe Mummy,

vor wenigen Minuten ist die Nacht dem neuen Tag gewichen. Heute ist der erste Jänner. Wir schreiben bereits das Jahr 1981.

Weißt du noch, wie wir an Silvester immer die Raketen beobachteten und unsere Wünsche für das neue Jahr auf Zetteln schrieben, die wir dann verbrannten? Einige unserer Anliegen erfüllten sich tatsächlich.

Bei euch ist es nun schon einige Stunden später als hier. Ich habe vorhin die Augen geschlossen und mir vorgestellt, wie Großmama und du Silvester gefeiert habt. Es geht ihr doch schon besser? Ich hoffe es so sehr!

Ach, Mummy, ich wünschte, ich wäre bei euch. Hier gibt es weder Raketen, noch Menschen, die mit mir feiern. Silvester wurde einfach vergessen, genau wie mein achtzehnter Geburtstag im Dezember.

Meine Glieder schmerzen so sehr. Das Blut pocht in den Adern.
Doch die Schmerzen machen mir nichts mehr aus. Sie zeigen mir nur noch, dass mein Körper lebt.
Meine Seele ist dieser Welt schon längst gewichen.

Neben mir liegt ein Foto von uns drei. Ich war etwa dreizehn. Links von mir stehst du, so wunderschön in deinem blauen Lieblingskostüm. Rechts Großmama, edel gekleidet wie die Königinmutter. Wir besuchten an diesem Tag die Oper. Ich war so stolz, fühlte mich richtig erwachsen. Ach Mummy, ich würde alles dafür geben, wäre heute dieser Tag. Ich würde alles dafür geben, könnte ich wieder einschlafen und erwachen mit dem sicheren Gefühl, euch wieder zu sehen.

Von Menschen umgeben zu sein, welche man liebt und die diese Gefühle bedingungslos erwidern, ist keine Selbstverständlichkeit. Doch das begreift man nicht ehe es schon zu spät ist.

Weißt du, was ich mir an unserem letzten gemeinsamen Silvester gewünscht hatte? Mummy, ich wünschte mir, dass er mich mitnehmen möge.

Mummy, vergib mir. Bitte vergib mir, wenn du es kannst.

Mummy, geliebte Mummy, vergiss deine Tochter niemals.
Denke an mich, wenn du dir die Sterne ansiehst. Denke an die vielen Male, als wir das noch gemeinsam taten.

In ewiger Liebe, Sarah


Die Tränen verwischten die schwarze Tinte. Sarah erhob sich langsam und öffnete die Balkontür. Das Holz knarrte, während sie die schmale Brust betrat. Ihre Hände zitterten, als sie das Feuerzeug aus der Hosentasche zog. Sie beobachtete wie das Papier langsam verbrannte. Es war nur eines von vielen.

Einer von vielen Briefen, welche sie schon geschrieben hatte. Briefe, die den Adressaten niemals erreichen würden.

Sarah sank schluchzend auf den kalten Holzboden. Es war eine warme Sommernacht, dennoch fröstelte sie. Nach einigen Minuten schaffte sie es schließlich wieder aufzustehen. Sie lehnte sich an die hölzerne Brüstung und richtete ihre schmerzenden Augen auf den klaren Sternenhimmel. War es derselbe, den ihre Mutter und ihre Großmutter nun sehen würden? Sarah bezweifelte es. Gleichermaßen glaubte sie nicht, dass die beiden täglich von derselben Sonne geweckt wurden, wie sie selbst.
#29

So nächstes fb Big Grin

ich liebe es wie du schreibst, wenn du mal ein buch schreiben würdest würde iches auf jedefall kaufen Smile

Sarah tut mir sehr leid
Zitat:Einer von vielen Briefen, welche sie schon geschrieben hatte. Briefe, die den Adressaten niemals erreichen würden.
Was wohl mit ihr passiert ist?
Ich bin sehr gespannt und habe weiterhin sehr großes interesse an deiner ff

Zitat:[SIZE=3]Handelte es sich hier nur um einen Zufall? Lediglich um einen, zugegebenermaßen, sehr merkwürdigen Zufall? Alex zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und musterte es unentschlossen. Auch diese Sache würde letztendlich nicht in seiner Entscheidungsgewalt liegen.
[/SIZE]


Was weiß alex was wir nicht wissen?

Ich hoffe du schreibst bald einen neuen teil oder zwei Big Grin

Ganz liebe Grüße
Zora

[SIGPIC][/SIGPIC]
Du bist nicht wie ich,doch das ändert nicht,
dass du bei mir bist und ich zuseh' wie du schläfst
#30

hey selene
ich werde dir gleich fb geben...muss noch die neuen teile lesen
so jetzt gibt es ordentliches fb
zum ersten teil:
einfach genial..du schreibst einfach wunderbar
und man hat wieder etwas über die vergangenheit von sarah erfahren...dass finde ich einfach wunderbar
aber wer ist diese eduardo?
und dann noch von lillian der teil...aber ich bin froh, dass sie erfahren hat, dass sie adoptiert wurde
auch wenn es nicht gerade zum rechten zeitpunkt passiert ist

nun zum zweiten teil:
ich finde es toll, dass du oksana mit rein bringst
wie sie sich daran erinnern kann ist echt wahnsinn
kann es vll sein, dass alex der vater von sarah ist?weil er so über das datum nach gedacht hatte
und dann noch der brief von sarah...wirklich traurig
freu mich aber schon auf den neuen teil
mfg lava

[SIZE=2][SIGPIC][/SIGPIC][/SIZE]
Perfect love is rare indeed - for to be a lover will require that you continually have the subtlety of the very wise, the sensitivity of the artist, the acceptance of the saint. [Leo Buscaglia]


Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 2 Gast/Gäste