[Noodle]

21.15h-21.30h

Ihr gefiel es, wenn er lachte. Es war nicht mehr dieses schiefe Grinsen wie zuvor. Ob er oft lachte?
„Und warum sind sie noch so spät unterwegs?“, fragte sie neugierig, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. Auch er hatte aufgehört zu lachen und schaute sie amüsiert an.
„Ich habe die Zeit vergessen. War in der Bibliothek.“
„Lesen sie viel?“
„Von Zeit zur Zeit. Und sie?“
„Ich liebe Bücher über alles. Es ist wie Sauerstoff für mich.“
„Ein Bücherwurm?“
„Eher ein Bücherjunkie. Mit vier Jahren habe ich angefangen zu versuchen Bücher zu lesen. Mit aller Macht habe ich mich auf die Wörter konzentriert, aber ich habe es nicht geschafft. Meine Mutter hatte Angst, dass mir die Augen rausfallen, weil ich so sehr auf die Wörter starrte und hat darum alle Bücher vor mir versteckt. Also ich bin in die Bibliothek und habe weiter auf die Wörter gestarrt. Ich wollte, dass sie einen Sinn ergaben. Erst als ich dann in die Schule kam konnte ich richtig lesen. Für meine Mutter war das eine wahre Erleichterung.“
Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu reden. Es tat gut sich einfach mal über sinnlose Sachen zu unterhalten. Er lächelte sie an. Eine Bestätigung, dass er zuhörte. Dass es ihn interessierte.
„Was lesen sie gerade?“, fragte sie aus reiner Neugier und nickte ihm zu. Er beugte sich vor um das Buch aus seiner hinteren Hosentasche zu ziehen und zeigte ihr das Cover.
„Franz Kafka >Die Verwandlung<“, las sie laut vor. „Gutes Buch. Wie finden sie es?“
„Es ist gut...Manche Stellen sind ein bisschen langatmig, aber im großen und Ganzen ist es doch in Ordnung.“
„Lesen sie es zum ersten Mal?“
„Nein, ich glaube ich habe es jetzt schon so um die zwanzig Mal gelesen.“
„Aber sie sagten doch, sie lesen nicht viel.“ Erstaunt schaute sie ihn an.
„Was ist schon viel?“, meinte er lässig und schmunzelte bei ihrer Verwunderung.
„Nun ja unter >viel< verstehe ich, wenn man ein Buch mehr als einmal liest.“
„Oh, na dann lese ich viel.“
„Kann man sich bei ihnen kaum vorstellen.“
„Mache ich keinen intelligenten Eindruck?“
„Eher einen Unnahbaren.“
„Und das heißt automatisch, dass ich nicht viel lese?“
„Nein...ich meine ja...ich...“, stotterte Rory und fuchtelte mit ihren Händen herum. Sein amüsierter Gesichtsausdruck half ihr auch nicht weiter. „Argh sie bringen einen echt in Verlegenheit.“, schnaufte sie schließlich und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust. Er grinste sie schief an, was sie dazu veranlasste wieder aus dem Fenster zu blicken und ihn zu ignorieren. Aber sie musste leicht schmunzeln. Sie hasste es aus der Fassung gebracht zu werden, aber irgendwie musste sie innerlich in diesem Moment lachen.

Damals hatte er sie oft in Verlegenheit gebracht. Ob er es aus Absicht oder unwissend getan hatte, konnte sie nicht sagen. Er hatte wahrscheinlich nie richtig begriffen, dass sie sich nicht wohl gefühlt hatte. Aber sie hatte es für ihn getan. War für ihn auf diese hohen gesellschaftlichen Veranstaltungen gegangen. Hatte den versteckten Spott über sich ergehen lassen. Ob er das gemerkt hatte? Ob er damals gemerkt hat, dass sie keiner anerkannt hatte? Niemals hat sie ihn darauf angesprochen. Alle in sich hineingefressen. Für ihn. Damit er nicht dachte, sie würde das nicht schaffen. Damals wollte sie Stärke zeigen, denn das brauchte man in diesem Geschäft. Willenskraft. Sie wusste nicht wie sie es geschafft hatte, so lange durchzuhalten. Wenn sie es ihm gesagt hätte, hätte er sie unterstützt? Verständnis gezeigt? Nun war es zu spät ihn das zu fragen.

„Wie lange wohnen sie schon in New York?“ Mit dieser Frage holte er sie wieder aus ihren Gedanken zurück. Sie wendete ihren Blick wieder ihm zu.
„Seit zwei Jahren. Warum fragen sie?“
„Na ja jemand der lange in New York wohnt müsste eigentlich wissen, dass man als schwangere Frau nicht abends spät noch alleine in der U-Bahn sitzen sollte.“
„Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.“
„Wenn sie meinen...“
„Meine ich.“
Schweigen. Aber diesmal nicht ein so angenehmes Schweigen. Es war ein Erdrückendes. So wie sie es von anderen Unterhaltungen kannte.
„Warum sind sie hierher gezogen?“, fragte er plötzlich. Sie war erleichtert, dass er das Thema wechselte. Er schien zu merken, dass ihr dabei nicht ganz wohl war.
„Wegen meinem Job. Ich habe hier nach meine Studium ein Jobangebot bekommen. Es bot sich quasi an.“
„Als was arbeiten sie?“
„Ich bin Journalistin bei der New York Times.“
„Oh wow. Ich bin beeindruckt.“
„Es ist nichts großes. Bis jetzt habe ich noch nichts veröffentlichen können.“
„Aber es ist die New York Times.“
„Ja es ist die New York Times.“, nickte sie und lächelte verträumt. „Mein Traum....“
„Sie wollten schon immer Journalistin werden?“
„Seit ich denken kann. Es gab immer wieder Up and Downs, aber ich wollte es immer sein.“

Er hatte sie damals gefragt, ob sie es aufgeben würde. Ob sie ihren Traum aufgeben würde, wenn sie eine Familie gründen. Sie hatte es nicht fassen können. Hatte er sie nie richtig gekannt? Das war ihr Traum gewesen. Ihr Traum zu leben. Und er wollte, dass sie ihn für ihn aufgibt. Sie hätte es getan. Sie hätte ihren Traum für ihn aufgegeben. Denn obwohl sie es leugnete, sie hat ihn geliebt. Und sie hätte wahrscheinlich alles getan, damit das nicht passiert wäre, was nun der Umstand dafür ist, dass sie ihr Kind alleine großziehen würde.

Wieder blickte sie zu Boden. Vermied den Augenkontakt zu ihm. Konnte sie denn über nichts reden, ohne dass sie an ihn erinnert wurde? Ohne dass der Schmerz, die Furcht, die Erinnerungen alle wieder hochkamen? Es waren vier Monate vergangen und sie musste einsehen, dass sie es nicht überwunden hatte. Nein es war mit der Zeit alles nur noch schlimmer geworden.

Sie zwang sich durchzuatmen und wieder einmal verdrängte sie alles. Den Schmerz, den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, die Erinnerung. Ihr Blick traf wieder seinen und ihr entging nicht, dass er verzweifelt versuchte den ihren zu deuten. Wieder wich sie ihm aus und starrte aus dem Fenster. Vielleicht war sie jetzt bereit darüber zu reden. Vielleicht war er genau derjenige, der alles erfahren sollte. Vielleicht war sie einfach nicht bereit dazu gewesen, weil alle mit denen sie hätte reden können, ihr Nahe standen. Sie verurteilt hätten. Das war ihre Chance all das auszusprechen, was sie seit vier Monaten mit sich rumschleppte. Was sie innerlich zerfraß. Eine Chance, die nicht so schnell wieder kommen würde.

TBC

Und die Vorschau auf den nächsten Teil

Sie erinnerte sich an das Gefühl als der Schwangerschaftstest pink anzeigte. Sie hatte es nicht glauben können. Geschockt hatte sie ihn fallen lassen. Hatte sich am Badewannenrand abstützen müssen, die rechte Hand vor ihrem Mund und Tränen in den Augen. In diesem Moment war es ein Schock. Fünf Minuten später war es Angst. Angst es ihm zu sagen. Angst es ihrer Mutter zu sagen. Angst vor Veränderung. Erst drei Monate später war es Freude. Vorfreude auf das was sie erwarten würde. Ein Baby. Verantwortung. Ein Leben als Familie.