Einundvierzig
2011
Es war nur eine Hand breit Platz zwischen ihnen, als sie den Gang entlang gingen. Die Gummisohlen ihrer Turnschuhe quietschten auf dem Linoleum, doch ansonsten war Stille.
Was sollten sie auch sagen? Es war nichts geblieben, was man noch in Worte fassen konnte, nichts, was es einfacher machen würde, nichts. Simon schob die Hand in seine Hosentasche und berührte mit den Fingerspitzen eines der Fläschchen. Bald war es endlich vorbei.
âAlles okay?â, riss Anne ihn aus seinen Gedanken. âDu bist blass, Simon.â
Er lächelte und zog die Hand wieder aus seiner Tasche. Ohne Probleme waren sie durch die achtlose Kontrolle am Eingang gekommen. Sie hatten Ihre Handys und einige andere Gegenstände von Anfang an abgegeben, waren grob abgetastet und weitergeschickt worden. Simon hatte befürchtet, dass Leon ihn mit dem Morphin in eine Falle locken würde, aber niemand hatte es entdeckt. Ãberhaupt schien es niemanden wirklich zu interessieren, dass sie hier waren. Aus dem Schwesternzimmer roch es nach Mentholzigaretten, die im Gebäude eigentlich wie alle Tabakwaren nichts zu suchen hatten. Aber zu stören schien es niemanden.
âSimon?â, hakte Anne noch einmal nach und stieà ihn sanft an.
âJaja, alles okay.â, antwortete er ruhig. Es schien, als würde mit der Aussprache dieser Worte seine Gesichtsfarbe gesünder werden.
âGut, da wären wir. Sind Sie bereit?â, fragte die Wärterin, die sie bis zum Krankenzimmer begleitet hatte.
Simon und Anne tauschten einen kurzen Blick, dann sah er nach vorn auf die Tür und straffte die Schultern.
âJa, gehen wir.â, sagte er laut und deutlich, wie um sich selbst zu motivieren. Die Wärterin drückte einen Schalter an der Tür und öffnete diese dann. Simon trat ein und Anne folgte dicht hinter ihm.
Der Raum war klein, alles darin war weiÃ. Anne sah sich um und betrachtete alles eingehend, bevor sie einen vorsichtigen Blick auf das Bett in der Mitte des Raumes warf.
Simon war stehen geblieben und starrte den Mann an, der darin lag: Er war riesig, aber dürr und glatzköpfig, und während er schlief, hustete er krächzend. Leon, sein Vater. Der Mann, den er sein Leben lang gefürchtet hatte, abgesehen von dieser einen Viertelstunde, in der er sich gewehrt und sein Leben in der Hand gehalten hatte. Jetzt umschlossen seine Finger eines der Fläschchen in seiner Tasche, und ihm wurde bewusst, dass es genau wie damals war: Er hatte es in der Hand, er allein.
Anne räusperte sich leise und trat dicht neben ihn. Er sah sie nicht an, hatte nur Augen für diesen Mann, und sein Blick glich dem, mit dem er sie selbst angesehen hatte, kurz bevor er sie in seinem Bad angegriffen hatte. Sie sah zu ihm auf und wollte seine Hand nehmen, doch er zog sie weg. Dann nahm er die andere Hand aus der Tasche und sie sah, dass er etwas darin festhielt.
âSimon!â, entfuhr es ihr entsetzt, und in diesem Moment öffnete Leon die Augen.
âHallo, mein Sohn.â, sagte er sofort und grinste. Anne wurde schlecht, aber sie wusste nicht, wer von beiden ihr unheimlicher war.
âSimon, tuâ das weg, sofort!â, wisperte sie.
âAnnie, setz dich.â, befahl er in einem Ton, der keine Widerworte duldete. Sie trat zurück und setzte sich auf einen Stuhl, was angesichts ihrer weichen Knie sowieso besser war. Mit einer Mischung aus Sorge, Angst und Verwirrung beobachtete sie Simon, der nun mit schneidender Stimme zu Leon sprach.
âSo, und wie soll das jetzt gehen, alter Mann? Lass mich an deinem genialen Plan teilhaben.â
Anne lief es kalt den Rücken hinunter. So, wie Simon jetzt sprach, würde ihn niemand reizen wollen. Niemand, auÃer Leon.
âEs ist eigentlich ganz einfach, aber ich weià natürlich nicht, ob du zu blöd dafür bist. Unter dem Tisch klebt eine Spritze. Die nimmst du, füllst das Morphin ein und spritzt es in den Infusionsschlauch. Ganz Einfach.â
Simon ging zum Tisch und griff darunter. Tatsächlich hielt er eine Spritze in der Hand. Misstrauisch sah er auf Leons Handgelenke, an welchen er an das Bett gefesselt war. Die Spritze musste ebenfalls von seinem Helfer angebracht worden sein. Wer würde diesem Mann helfen?
âUnd wie willst du mir sagen, was mit Annes Eltern passiert ist, wenn du voll zugedröhnt bist?â, fragte er nach und sah ihn dabei prüfend an. Es war unmöglich, festzustellen, ob er wirklich etwas wusste.
âEs braucht etwa drei, maximal vier Spritzen. Du wirst mir vier geben. Um die ganze Wahrheit herauszufinden, musst du zwei Umschläge finden, die in der Stadt verteilt sind.â
Er hustete kurz, dann sprach er mit kratziger Stimme weiter.
âNach den letzten beiden Spritzen werde ich dir je einen Ort sagen.â
âUnd wenn du es nicht mehr schaffst, mir beide Orte zu nennen? Wenn du nach der dritten schon hinüber bist?â
âDann ruft dich jemand an, sobald die Nachricht von meinem Tod raus ist.â
Simon lachte und drehte sich zu Anne um, die regungslos auf ihrem Stuhl saÃ.
âMeinst du er sagt die Wahrheit?â
Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, sah ihn aus groÃen Augen an. Die Narben auf ihrem Gesicht stachen plötzlich hervor, so weià war sie geworden.
âIch glaube, das kleine Käferchen weià tief in ihrem Herzen, dass ich ein ehrlicher Mann bin.â
Anne wurde plötzlich kalt und die Tränen schossen in ihre Augen. Alles tat weh und sie wusste nicht, warum.
Simon sah sie nur an, registrierte ihren Blick, der alles sagte: Leon wusste die Wahrheit. Sie war sicher.
Er nahm ein Fläschchen Morphin aus seiner Tasche, stach die Nadel ein und zog das Medikament in die Spritze.
Sie blinzelte die Tränen weg. âLass es sein, Simon. Das ist es nicht wert. Lass es sein, bitte!â
Er drückte die Flüssigkeit nach oben, bis alle Luft entwichen war und ein bisschen davon über die Nadel rann, so wie er es aus Filmen kannte.
Auf wackligen Beinen stand sie auf und ging zur Tür.
âHör auf, Simon. Es ist mir egal, ich will es nicht wissen. Bitte, lass uns gehen!â
Er stach die Nadel in den Schlauch und drückte zu.
*
Juli 1992
Die Sonne strahlte am wolkenlosen Himmel und erreichte jeden Winkel der Stadt. Es war heiÃ, so heiÃ, dass Josephine nur noch ein dünnes Seidenkleid und einen riesigen Sonnenhut trug. David Becker lieà abwesend seinen Blick über den Körper seiner Frau gleiten, als sie sich erhob, um etwas zu Trinken aus dem Picknickkorb zu holen.
Neben seinem Kopf lieà sich die zweite wichtige Frau in seinem Leben, âetwasâ weniger grazil als ihre Mutter, auf die Picknickdecke plumpsen.
âAnne, wie fändest du es, wenn du noch einen kleinen Bruder oder eine Schwester bekommst?â, fragte er lächelnd.
Josephine drehte sich um und grinste.
Anne reagierte gar nicht erst auf seine Frage.
âPapa, spielen!â, forderte sie aufgeregt und zog an seinem Arm. Er schloss die Augen.
â5 Minuten.â
âMetterling!â, brüllte sie da und stand schwankend auf, um einem bunten Falter hinterher zu tapsen. Belustigt beobachtete er mit einem geöffneten Auge, wie seine Tochter immer wieder nach dem Tier griff, das unerreichbar über ihrem Kopf flatterte, und ihm hinterher tapste.
Josephine lieà sich wieder neben ihm nieder, trank etwas aus einer Wasserflasche und hielt ihm diese dann hin. Er richtete sich träge ein Stück auf und trank ebenfalls davon.
âEinen Bruder oder eine Schwester?â, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch.
âHattest du nicht gestern gesagt, dass... Wolltest du nicht noch warten?â
David setzte die Flasche ab und nahm ihre verschwitzte Hand in seine.
âNaja, ich mache mir schon Sorgen. Aber wenn ich dich so ansehe...â
Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
âIch liebe dich, du liebst mich und wir beide lieben Anne, oder? Wir kriegen das schon hin.â
Sie lächelte und setzte sich auf.
âErst Mal müssen wir aufpassen, dass uns das eine Kind nicht abhandenkommt, weil du deine Augen nicht von mir lassen kannst.â, stellte sie fest, küsste ihn kurz und lief dann hinter ihrem Töchterchen her über die Wiese. Er folgte ihr mit seinem Blick. Irgendwann, dachte er verträumt, würde er Männer dafür hassen, dass sie Anne so nachsahen, wie er es jetzt gerade bei Josephine tat. Aber er konnte es ja doch nicht lassen.
âKomm, Käferchen.â, hörte er seine Frau zu Anne sagen. âIch habe Fingerfarben eingepackt, du darfst Papas Rücken anmalen.â
Zufrieden schloss er die Augen und drehte sich auf den Bauch, um von der Zukunft zu träumen, während seine Tochter aus seinem Rücken ein Kunstwerk machte.
*
2011
Wie eine Salzsäule stand sie da, an der Tür. Sah ihn entsetzt an, wie einen Verbrecher, während sich auf Leons Gesicht ein Lächeln ausbreitete.
âIch sehe... Wir verstehen uns.â
Anne verstand ihn nicht, aber das musste er in Kauf nehmen. Er wusste, was er zu tun hatte und jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er nahm ein zweites Fläschchen aus der Tasche.
âEs ist mir ein Vergnügen.â, antwortete er, kurz bevor er die Spritze entlud.
Leon seufzte. Anne weinte.
âWeiÃt du...â, sagte Simon kalt. âIch hätte dich trotzdem lieber totgeschlagen. Mit so einer Spritze - das ist doch irgendwie Feige. Vielleicht kommâ ich damit sogar ungestraft davon.â
âSimon, bitte. Ich will das nicht. Ich will das nicht!â, kam Annes dünne Stimme von der Zimmertür her. Sie hatte sich umgedreht, sah hinaus, um nicht zu sehen, wie ihr bester Freund zum Mörder wurde.
âEr macht das für michâ, schoss es ihr durch den Kopf. âIch bin genauso schuldig wie er. Wir gehen beide ins Gefängnis.â
âDie dritte Spritze.â, kündigte er an. Und dann hörte sie Leon sagen:
âDer dritte Mülleimer vom Nordeingang des Schlossparks aus. Ein roter Umschlag ist darunter.â
In ihrem Kopf war nur noch Nebel, die Arme und Beine wie gelähmt. Sie fühlte den Brechreiz in sich aufsteigen, aber selbst zu dieser Bewegung schien ihr Körper nicht mehr imstande zu sein. Sie stand einfach nur da und hörte zu:
âNummer vier.â
Und dann, müde:
âMarienkrankenhaus, Hintereingang, Bank.â
âDanke, Leon.â, sagte Simon dann, und sie konnte ihn lächeln hören.
âIch hoffe, die Vitamininjektionen tun dir gut. Schönes Leben noch. Vielleicht kriegst du ja deinen AuÃenkontakt dazu, dich wirklich umzubringen.â
âBitte was?â
âAnnie, drehâ dich mal um.â
Ihr Körper gehorchte ihm wie von selbst. Nun war es Leon, der kreideweiÃ, aber noch ziemlich lebendig in seinem Bett lag.
âSimon, was...?â, murmelte Anne.
Er lachte.
âNaja, in den ersten beiden Spritzen war noch Morphin drin... Teilweise.â
âDu Teufelskind.â, grollte Leon, âIch werd euch kriegen, alle beide! Ich machâ euch fertig.â
Mit wenigen Schritten durchquerte Simon den Raum zur Tür.
âNein, alter Mann, du wirst sterben. Und zwar ganz allein und unter Schmerzen, aber nicht durch mich. Ich werde niemals so sein wie du. Und das weiÃt du ganz genau.â
Er wischte Anne die Tränen vom Gesicht, die nur dastand und tausend widersprüchliche Gefühle durch ihren Körper rasen fühlte. Ihr war schlecht vor Erleichterung, Stolz und Enttäuschung. Dankbar war sie und ängstlich. Die Aufregung über die Auflösung der wichtigsten Frage ihres Lebens lieà sie zittern, seine Hand auf ihrem Gesicht verursachte tausend kleine Stromschläge aus Wut und Zuneigung, aber vor allem war sie entsetzlich müde.
âKomm, Annie.â, flüsterte er sanft, âwir gehen jetzt deine Vergangenheit erklären.â
Sie nickte und schob ihre Hand in seine, die auf ein Mal riesig schien, und bevor sie das Zimmer verlieÃen, sah sie über ihre Schulter, nahm all ihre Kraft zusammen und starrte Leon ins Gesicht, bis er die Augen schloss. Simon drehte sich nicht noch einmal um.