dankedanke für die vielen antworten
es geht ganz schnell weiter mit einem lang erwarteten teil!
Achtundzwanzig
2011
„Annie, warte!“
Ruckartig blieb sie stehen und drehte sich um. Sah angestrengt in die Richtung, aus der zweifellos die Stimme gekommen war, die sie seit Wochen nicht gehört hatte. Und sah ihn nicht. War es jetzt schon so weit mit ihr? Bildete sie sich jetzt schon seine Stimme ein?
„Hier!“
„Simon?“
Sie starrte nur ungläubig. Da stand er. Keine zehn Meter von ihr entfernt, von dem Schaffner abgewandt, mit dem er sich bis gerade noch unterhalten hatte.
Anne blinzelte. Ihre Halluzinationen wurden immer verrückter. Das war nicht Simon, und er war es doch – hatte sie eine merkwürdige Hirnkrankheit? Was ging hier vor?
„Die Haare sind gefärbt.“, klärte er das Offensichtliche auf und auf einmal sah sie es auch.
Sie lieà den Koffer unsanft auf den Boden fallen, er öffnete sich und Socken, Unterwäsche und Kleinkram verstreuten sich vor der Treppe. Passanten meckerten murmelnd vor sich hin, während sie darüber stiegen. Simon lief eilig die letzten Meter zu Anne und ging synchron mit ihr in die Knie, um alles einzusammeln. Sie hatte den Kopf gesenkt und war rot angelaufen. Sie hatte ihren besten Freund nicht erkannt, nur weil er eine andere Haarfarbe hatte. Und jetzt trampelten Hinz und Kunz durch ihre Unterwäsche, die für alle sichtbar auf dem Bahnsteig lag.
„Was soll das denn? Sie sind im Weg!“, verkündete eine ältere Dame und zerrte ihren Rauhaardackel weiter, der eine von Annes Socken direkt aus dem Koffer entführte.
„Hey!“, rief Simon ihr hinterher, aber sie drehte sich nicht mehr um.
„Lass...“, sagte Anne stimmlos und räusperte sich dann, während beide die umliegenden Sachen eilig in den Koffer räumten und mit vereinten Kräften die Hälften zusammendrückten. Dann griffen sie nach den Verschlüssen. Als Simons Hand ihre berührte, zog Anne vor Schreck ihre Hand weg und Simon griff gerade so noch ihre Hälfte vom Koffer, bevor sich dessen Inhalt ein weiteres Mal selbstständig machen konnte. Er schloss den Koffer, dann legte er beide Hände darauf und hob den Kopf. Anne starrte ihn bereits fasziniert an und suchte nach ihrer verlorenen Fähigkeit, zu sprechen.
„Lass uns erst mal hier weggehen.“, beschloss er für sie und nahm den Koffer. Anne folgte ihm eilig durch das Getümmel.
Etwas später war der Koffer sicher in Simons „Klappermobil“ verstaut. Unschlüssig standen beide vor dem Auto. Wieder war es Simon, der zuerst sprach.
„Ich bring dich nach Hause. Falls du keine Angst hast, mit mir in ein Auto zu steigen.“
„Simon...“
„Ich weiÃ, dass ich ziemlich heftig reagiert hab.“
Er lehnte sich an das Auto. Sie tat es ihm in etwa einem halben Meter Entfernung gleich.
„Ich hätte nicht einfach meine Nase in deine Angelegenheiten stecken dürfen. Ich hab mir nur Sorgen gemacht. Ich dachte du wärst sauer auf mich und ich wusste nicht wieso. Und dann hab ich deine Gedichte gelesen, obwohl ich wusste, dass du das nicht wollen würdest.“, sprudelte sie plötzlich hervor. Simon unterbrach sie.
„Und dann hab ich dich angebrüllt und du hast so Angst vor mir gehabt, dass du gleich die Stadt verlassen musstest?“
Anne konnte nicht einordnen, ob sein Tonfall mehr traurig oder mehr zynisch war.
„Du hast mich noch nie so angebrüllt, und vor allem nie so wütend ausgesehen. Und dann hast du noch sowas gesagt wie 'Wenn du das noch mal machst, dann...' – klar hatte ich da Angst. Wer hätte da keine Angst? Vom gewaltfreien Simon war da nicht mehr viel zu sehen.“
„Du dachtest, ich würde...?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Aber ich hab doch noch auf dich gewartet. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll, dass du so heftig reagiert hast. Aber deshalb bin ich nicht zu Mark gefahren.“
„Und warum dann?“
„Du hast mich aus deiner Wohnung geworfen, Simon! Ich dachte, du willst mich nie wieder sehen. Und mit deiner Reaktion vorher hat das auch gut zusammen gepasst.“
Sie zuckte mit den Schultern und sah ihn jetzt direkt an.
„Vielleicht wär ich sonst zuhause geblieben, aber ich dachte, dass jetzt alles vorbei ist und dann bin ich zu Mark. Naja und als ich dann da war hab ich eben gemerkt, dass es ganz gut tut bei ihm zu sein, und es war einfacher als zurück zu kommen. Obwohl du dir ja Mühe gegeben hast, mich zurück zu holen.“
„Also, habt ihr zwei...“
„Simon!“
Ihre kleine Faust bohrte sich in seine Seite, dann zog sie sie schnell zurück und sah beschämt weg.
„Sorry.“, murmelte sie.
„Seit wann entschuldigst du dich dafür, mich geboxt zu haben?“
„Ich weià nicht. Ich... können wir einfach fahren?“
Plötzlich war sie müde. Müde von der Ehrlichkeit, müde von den vielen Fragen und müde von der Unsicherheit, die noch blieb. Der erste Schritt war getan, aber irgendwie kam es ihr vor, als würde es dieses Mal weit mehr als einen Schritt brauchen, um alles wieder ins Lot zu bringen. Sie konnten nicht einfach da weiter machen, wo sie aufgehört hatten. Irgendetwas musste sich ändern.
„Wie hast du eigentlich herausgefunden, wann und wo ich ankomme?“, fragte Anne einige Minuten später. Das Auto machte die gewohnt ungesunden Geräusche. Komischer Weise hatte es einen beruhigenden Effekt auf sie.
„So blöd bin ich auch nicht.“, meinte Simon achselzuckend. Er hielt an einem Stoppschild und sah sich um, bevor er weiter fuhr und auch weiter sprach.
„Es gab nur einen Zug, den du nehmen konntest. Ohne umsteigen. Und ich weiÃ, dass du umsteigen hasst.“
Sie nickte.
„Stimmt.“, sagte sie leise und lehnte den Kopf an die Scheibe.
„Du kennst mich zu gut“, dachte sie, aber sie sagte es nicht.
„Und warum hast du nicht einfach angerufen?“
„Du wolltest doch nicht telefonieren. Und... naja es war entweder dich abholen oder meiner Freundin gestehen, dass ich Angst vor Wasser hab. Ich fand es einfacher, dich abzuholen.“
Seine Ehrlichkeit entwaffnete sie für einen Moment. Das Auto röchelte gleichmäÃig vor sich hin. Anne überlegte, was sie sagen sollte.
„Freundin?“, hakte sie schlieÃlich nach.
„Sie heiÃt Valerie.“, erzählte er und lächelte plötzlich. Sie wusste nicht, wann er das letzte Mal gelächelt hatte. Heute hatte sie ihn noch kein einziges Mal lächeln gesehen. Schon gar nicht für oder wegen Anne.
„Lenas Tochter. Ich suche ihr grad eine Wohnung, und sie hasst Dachschrägen. Geheimnisse mag sie auch nicht, aber sie weià schon, dass ich genügend davon hab. Sie ist Läuferin. Und sie hat mich auf die Idee mit der Haarfarbe gebracht. Mal was Neues. Sie wollte mir helfen. Mich ein bisschen von dir ablenken, und das hat super funktioniert.“
Anne biss sich auf die Lippe. Er hatte sich die Haare gefärbt und sie sofort vergessen?
Wahrscheinlich war sie selbst schuld. Sie war diejenige, die sich nicht gemeldet hatte. Aber sie hatte an ihn gedacht. Immer wieder.
„Und seit wann seid ihr zusammen?“, fragte sie weiter und versuchte zu lächeln.
„Seit gestern. Das ging alles ziemlich schnell.“, plapperte er gut gelaunt.
„Ich mein, klar, du kennst mich, ich bin nicht so der Bindungstyp, momentan ist es noch etwas zu viel. Aber das könnte echt was werden. Sie weià von meinen Geheimnissen. Und ich werd ihr auch noch von der Sache mit dem Wasser erzählen. Ich glaube, sie mag mich wirklich. Sie nimmt mich so wie ich bin, weiÃt du?“
„Hmm.“, murmelte sie nur.
„Und färbt erst mal deine Haare.“, dachte sie boshaft, dann ermahnte sie sich selbst in Gedanken, nett zu sein.
„Das ist schön. Und Lena findet das auch gut?“, schloss sie schnell an.
„Ja, Lena findet das toll. Und du weiÃt ja, ich mochte Lena schon immer. Ich hab ihr so viel zu verdanken. Jemand besseres als sie kann ich mir als Mutter meiner Freundin gar nicht vorstellen!“
Sie wollte sich für ihn freuen. Aber der Gedanke, dass sein Leben nach einer kurzen Pause einfach weiter gelaufen war und er jetzt auf einmal ein anderer, beziehungsfähiger Mensch zu sein schien, hielt sie erfolgreich davon ab.
Als sein Wagen vor ihrer Haustür hielt und der Motor sprichwörtlich langsam erstarb, war sie erleichtert. Sofort öffnete sie die Tür.
„Danke fürs Fahren, Simon.“, wollte sie schon sagen, aber er stieg ebenfalls aus und nahm den Koffer aus dem Kofferraum. Anscheinen war er noch nicht bereit, zu gehen. Sie wusste genau, dass er das tat, weil er wusste, wie sehr sie es hasste, nach einer langen Reise in ihre leere Wohnung zurückzukehren. Es gab ihr immer ein unheimliches Gefühl. Heute aber wäre sie lieber allein gewesen. So hatte sie sich ihre Rückkehr nicht vorgestellt.
Aber was hatte sie dann erwartet? Ein Feuerwerk? Eine endlose Umarmung? Blumen und einen Kuchen? Ein BegrüÃungsbanner und Konfetti?
An der Tür angekommen, kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Während sie suchte, machte es sich jemand auf ihrem Fuà bequem.
„Miau!“, sagte er laut und kratze an ihrer Jeans,
„Mrs. Mistoffelees!“
Sie strahlte und bückte sich, um ihrem Kater den dicken Bauch zu kraulen. In all der Aufregung hatte sie ihn glatt vergessen!
„So überrascht?“, fragte Simon auch direkt grinsend und nieste.
Anstatt vor dem Niesen wegzulaufen wie Anne es gewohnt war, strich der Kater Simon um die Beine und schnurrte. Anne war vergessen. Wo kam denn diese plötzliche Freundschaft her?
„Na toll.“, murmelte Simon.
„Wie krieg ich denn die ganzen Haare aus meiner Hose?“
Er nieste noch einmal und kraulte den Kater, der noch immer schnurrte wie eine Nähmaschine, zwischen den Ohren. Anne schloss die Tür auf und der Kater schoss in die Wohnung, um zu seinem Napf zu kommen.
„Seit wann hat mein Kater keine Angst mehr vor dir?“, fragte sie und sah dem zufrieden kauendem Tier zu.
„Ach, ich war öfter hier um nach ihm zu sehen. Ich hoff, das macht dir nichts aus?“
„Du?“
Es war erstaunlich, wie viel Ãberraschung mit zwei kleinen Buchstaben zum Ausdruck gebracht werden konnte.
Simon stellte den Koffer ab. Einen Kommentar darüber, was sie denn alles darin herumschleppte, ersparte er sich. SchlieÃlich hatte er auf dem Bahnsteig bereits alles gesehen...
„Ja.“, antwortete er kurz. Unschlüssig trat er von einem Bein aufs andere.
„Ich glaub ich geh besser. Du kommst ja allein klar. Und... Wir telefonieren mal, okay? Wenn du dich wieder eingelebt hast.“
Sie nickte. Zu viele Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Darüber, dass er an einer Katzenhaarallergie litt und sich trotzdem um ihren neurotischen Kater gekümmert hatte. Darüber, dass es hingegen anscheinend nur eine Haartönung gebraucht hatte, um sie aus seinem Gedächtnis zu löschen.
Darüber, wie diese beiden Fakten zusammenpassten. Darüber, was die richtige Verabschiedung für den wichtigsten Menschen in ihrem Leben war, wenn sie gerade ganz am Anfang ihrer Versöhnung standen.
Beide hatten Fehler gemacht, beide hatten sie zugegeben. Trotzdem war es nicht einfach, jetzt ihre so enge Freundschaft wieder aufzugreifen. Was wusste sie überhaupt noch von ihm? Es war, als hätte er nicht nur seine Haare, sondern gleich seine Persönlichkeit gefärbt. In einer Farbe, die nicht sehr viel anders war als sonst, aber die in ihrem Farbspektrum einfach nicht vorhanden schien.
Wieder kam ihr in den Sinn, dass es war wie nach einer Trennung. Bilder von ihrem bemühten Aufbau einer Freundschaft mit Mark spielten sich vor ihrem inneren Auge ab und sie fragte sich, ob es mit Simon auch wieder so lange dauern würde, bis alles wieder in Ordnung war. Immerhin hatte niemand dem anderen das Herz gebrochen. Aber Vertrauen zu brechen, war das nicht genau so schlimm? Schlimmer?
Sie überlegte, ihm zum Abschied einfach aus sicherer Entfernung zuzuwinken. Aber er war ihr bester Freund, das konnte sie doch nicht tun?
„Mach‘s gut.“, durchbrach er die Stille, als sie nichts weiter sagte. Er sah ihr an, dass die Situation ihr unangenehm war und beschloss, sie für heute einfach nicht mehr weiter zu überfordern.
Drehte sich um und ging. Einfach so.
Mrs. Mistoffelees verschwand unter dem Schrank, als die Tür ins Schloss fiel.
Anne seufzte und holte Leckerlis aus der Küche, um ihn damit wieder hervorzulocken, bis ihr klar wurde, dass nicht das Geräusch der Tür, sondern Simons Abwesenheit den Kater unter den Schrank gescheucht hatte.
Wenn sie ehrlich war, hätte sie sich am liebsten auch einfach unter dem Schrank versteckt.