Feuerfang

sooo meine lieben. das warten hat ein ende. und einen neuen anfang. und dazwischen ein neues kapitel.

viel spaß.

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Zweiundvierzig
2011
Leon hatte ihn oft angelogen. Nicht nur ihn, nein, die ganze Welt hatte er angelogen, und obwohl ein untrügliches Gefühl ihm sagte, dass das, was er diesmal sagte, wahr war, war Simon unendlich erleichtert, als Anne unter dem dritten Mülleimer im Schlosspark den ersten roten Umschlag hervorzog.
Sie hatte die ganze Fahrt hierher über nicht mit ihm gesprochen, kein einziges Wort. Gezappelt hatte sie, mehr Lärm gemacht als das Klappermobil, aber gesagt hatte sie nichts. Jetzt hielt sie den Umschlag unter seine Nase, nahm seine Hand und schloss seine Finger um das raue, weinrote Briefpapier.
Nimm du.“, sagte ihr Blick. Ihr Mund sagte nichts.
Auch den zweiten Briefumschlag fanden sie, wie versprochen, unter einer Bank am Krankenhaus. Das Papier knisterte zwischen Simons Fingern als Anne es in seine Hände schob.
Er betrachtete die Umschläge, als könnten sie ihm ihren Inhalt verraten. Eine Weile lang war er gefangen von dem Wissen, das er in der Hand hielt. Von all den Möglichkeiten einer Wahrheit, die ein pflichtbewusster Polizist vor rund 20 Jahren vertuscht hatte.
Anne setzte sich auf die Bank, unter der gerade noch der Umschlag geklebt hatte.
Simon?“, krächzte sie leise. Sie räusperte sich und setzte noch ein Mal an.
Simon, was jetzt?“
Er sah von dem Geheimnis in seiner Hand auf und setzte sich neben sie.
Ich weiß nicht, willst du sie sofort aufmachen?“
Sie lächelte traurig, streckte eine Hand aus und fühlte über eine Ecke des oberen Umschlages, dann zog sie die Hand wieder zurück.
Vielleicht will ich es gar nicht wissen.“, murmelte sie.
Sie streckte die Hand erneut aus, fühlte über die Ecke, zog die Hand zurück.
Ich bin sauer auf dich, das weißt du, oder? Du hast mir richtig Angst gemacht.“, flüsterte sie dabei.
Simon nickte und wollte etwas antworten, aber sie sprach leise weiter.
Und ich bin so stolz auf dich. Und...“
Sie brach ab und sagte nichts mehr. Es war kurz still, während sie die Hand hob, sie auf die beiden Briefe in seiner Hand legte und liegen ließ. Es fühlte sich an, als würde nicht nur ihre Hand, sondern ihr ganzes Gewicht darauf lasten.
Und was?“
Und ich glaube nicht, dass jemals irgendwer etwas schöneres und gruseligeres und wichtigeres für mich tun wird.“
Sie lächelte schüchtern.
Ja, ich weiß, das passt nicht so ganz zusammen mit dem sauer sein, aber...“
Ich versteh‘ schon.“
Er grinste schief. Gar nichts verstand er, aber sie anscheinend auch nicht.
Simon?“
Ja?“
Kannst du sie aufmachen?“


Der erste Umschlag war dünn. Simon trennte ihn so behutsam er konnte auf. Während er mit seinen Fingern zwischen das zusammengeklebte Papier glitt, fühlte er, wie sie näher an ihn heran rutschte, bis sie fast auf seinem Schoß saß. Er konzentrierte sich auf das Reißen des Papiers, konnte seinen rechten Arm jedoch kaum bewegen, weil sie sich mit einer solchen Kraft gegen ihn schob, dass es Gewalt gebraucht hätte, um sich Freiheit zu verschaffen. Noch immer trennte er Papier von Papier, es schien ewig zu dauern und jedes Mal, wenn das Papier in seinen kalten Händen einen Millimeter zu weit riss, zuckte er erschrocken zusammen.
Unwillkürlich musste er an die Risse in der Decke seines Heimzimmers denken. Wie sie sie mit ihren Fingern verfolgt hatte, wie sie darüber philosophiert hatten und wie sie immer eine Hand breit Platz zwischen sich gelassen hatten weil sie beide ihren Raum brauchten. Für heute hatte sie die Spielregeln geändert, und er wusste nicht, ob...
Der letzte Rest Kleber gab nach. Im Briefumschlag lag ein zusammengefalteter, farblich passender Briefbogen, durch den Tinte in einer geschwungenen Handschrift schimmerte.
Sie starrten beide darauf. Simon hob umständlich den rechten Arm und legte ihn auf die Rückenlehne der Bank, was nicht zu mehr Freiraum führte, sondern nur dazu, dass Anne noch näher an ihn heran rutschte.
Und jetzt?“, fragte er leise.
Kannst du es mir vorlesen?“
So lange wie sie sich kannten hatte Anne oft komische Ideen gehabt, merkwürdige sogar. Aber nie war ihr Verhalten so wirr gewesen, so durcheinander, so... sinnlos. Vorlesen? Sie würde den Brief selbst lesen können, so nah wie sie saß. Simon fragte sich, was sie bezweckte – wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht.
Als er das Papier aus dem Umschlag nahm, zitterten auch seine Finger. Er faltete es auseinander und las.


Liebe Anne,
du kennst mich nicht. Du weißt nicht wer ich bin, aber ich kenne dich. Aus Geschichten, aus Gedichten, manchmal habe ich sogar von dir geträumt. Dass Leon sich so für dich interessierte und dir unbedingt die Wahrheit zukommen lassen wollte, war eine glückliche Fügung für mich, denn so hat er mich gefunden. Es war sein letzter Wunsch, dir zu helfen. Ich war zunächst nicht sicher, ob ich es wirklich verantworten kann, dir deine Geschichte zu erzählen, doch über die Jahre hatte ich immer wieder gemerkt, wie du auf deiner Suche immer engere Kreise um die Lösung zogst und es doch nie verstanden hast. Dein Wille, die Wahrheit zu finden, und Leons Hartnäckigkeit überzeugten mich schließlich.
Du wirst dich fragen, wer ich bin, wieso ich die Wahrheit kenne und wie sie so lange verborgen bleiben konnte.
Die Antwort ist einfacher als du denkst. Wie alle Angestellten der Klinik in der ich arbeite, unterliege ich einer Schweigepflicht. Ich bin Krankenschwester und in den letzten 15 Jahren war deine Mutter meine liebste Patientin.


Zeig!“ Sie riss ihm den Zettel aus der Hand und fuhr mit den Fingern über das Papier. Da stand es, Schwarz auf Weiß – oder besser, Blau auf Rot – aber wie sollte das möglich sein?
Sie krallte die Finger in das Papier.


Ich weiß, dass dir gesagt wurde, deine Mutter sei bei dem Hausbrand erstickt. Die Wahrheit ist, sie wäre fast erstickt. Sie konnte rechtzeitig gerettet werden, doch der Kontakt mit dir wurde verboten. Sie vermisst dich jeden Tag.
Deine Mutter lebt.


Sie knüllte den Brief in einer Hand zusammen und stand auf, ging einige Schritte, bevor ihre Beine nachgaben. Simon starrte sie nur an.
Alles in Ordnung, junge Frau?“
Eine Gruppe älterer Damen kam heran gewackelt und die kleinste unter ihnen bückte sich in unendlich langsamem Tempo zu Anne hinunter.
Belästigt der Herr Sie?“
Anne sah sie an.
Sie könnten Mayers Frau sein...“
Wie bitte? Kind, du siehst ganz blass aus. Brauchst du einen Arzt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein... Simon?“
Er stand auf, wie automatisch, schob sich an der gebückten Dame vorbei und half seiner besten Freundin wieder auf die Beine. Die alten Damen sahen mehr als irritiert aus, als Anne sich an ihn lehnte und die Augen schloss.
Wir kommen klar, vielen Dank.“, sagte er langsam und bemühte sich, harmlos zu lächeln.
Ein schwacher Kreislauf.“, fügte er hinzu.
Die Frau tauschte einen Blick mit ihrer dünnen, großen Freundin, die sich auf einen Stock stützte, und der zierlichen Dame, die sich in einem Anfall von Jugendlichkeit die Haare lila gefärbt hatte.
Wir sind direkt dort drüben.“, erklärte letztere jetzt drohend und Simon trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Anne kippte einfach mit. Er hielt sie fest und nickte der Dame zu.
„Das ist gut, danke.“, antwortete er brav und zog Anne zurück zur Bank.

Er wartete einige Minuten, bevor er sie ansprach, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, die sie da halb auf ihm lag und einfach nichts tat. Eine Ewigkeit, in der er nichts verstand, in der diese neue Wahrheit über ihnen schwebte und alles zu durchdringen schien. Alles war neu, doch nichts änderte sich, denn niemand begriff die ungeheuerliche Information, die sie soeben erhalten hatten.
Alles in Ordung?“
Meine Mutter lebt.“


*


Da war es wieder, das Schweigen zwischen ihnen. Aber diese Art von Schweigen war unangenehm. Es war ein hilfloses Schweigen. Keines, weil man keine Worte brauchte um einander zu verstehen, sondern weil man keine finden konnte.
Noch immer hielt sie den Brief fest umklammert, las nicht weiter und verschmierte die Tinte mit ihren schwitzenden Händen.
Simon fragte sich wann sie bereit sein würde den zweiten Brief zu öffnen. Ob er selbst bereit war? Es war ganz und gar nicht so, wie Simon sich das alles vorgestellt hatte. Sie waren keine Detektive oder Agenten aus dem Fernsehen, die einfach immer weiter gegen die Zeit rannten, Information um Information verarbeiteten und in 40 Minuten auf dem Bildschirm Geheimnisse auseinandernahmen. Sie waren mitten drin und sie konnten nicht weiter in diesen Riesenschritten.
Anne war aufgestanden und lief hin und her, murmelte vor sich hin. Bald würde sie in eine fremde Sprache verfallen oder eine Superkraft offenbaren, fürchtete Simon, aber es passierte nichts. Da war nur ein kleines Mädchen, das verwirrt von A nach B tigerte und er, Simon, der hier festsaß mit noch mehr in der Hand was dem nervösen Wrack, das heute Morgen noch seine beste Freundin gewesen war, vermutlich den Rest geben würde.
Langsam fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Seit er von Mayer wusste, überlegte er, ob es wirklich klug war, dass Anne ihre Vergangenheit mit aller Kraft verfolgte. Doch geholfen hatte er ihr trotzdem, alle Bedenken ignoriert, alle Ängste zerstreut, vielleicht in der geheimen Hoffnung, dass sie die Wahrheit sowieso niemals finden würden.
Und langsam, kalt und beklemmend, wie das Wasser, das er so fürchtete, breitete sich ein Verdacht in ihm aus. Was war, wenn er am Ende doch gegen Leon verloren hatte?
Jahre voller Therapie hatte es gebraucht bis Simon sich nicht mehr als Unglücksbringer sah. Jahre in denen ihm eingetrichtert werden musste, dass alles nicht seine Schuld gewesen war. Und doch – am Ende konnte es gut sein, dass Leon Recht behalten würde: Es war seine Schuld, dass Anne jetzt die Wahrheit herausfand, vor der er sie eigentlich hätte schützen müssen, nur weil er Leon zeigen wollte, dass er kein kleiner Schwächling mehr war.
Am Ende war er nur ein selbstsüchtiger Versager, genau wie sein Vater, und Anne würde...

Die Frau ist doch irre.“, unterbrach sie seine Gedanken plötzlich und ließ sich neben ihn auf die Bank plumpsen.
Überrascht hob er den Kopf. War sie plötzlich aus ihrer Trance erwacht?
„Wie meinst du das?“, fragte er vorsichtig nach, weil ihm nichts Besseres einfiel.

Hier steht, dass sie in Leon verliebt ist!“
Sie wedelte mit dem Brief vor seiner Nase herum, den sie offensichtlich zu Ende gelesen hatte.
IN LEON! Ich möchte dir ja nicht zu nahe treten aber dein Vater ist das widerlichste, unsympathischste und abartigste... Viech das mir je begegnet ist, und letzten Sommer hatte ich Kakerlaken in der Wohnung. Und wegen sowas rennt die durch die Stadt und klebt Umschläge mit den Geheimnissen meiner Familie unter Mülleimer - ist die bescheuert? Für so einen schmuggelt die Morphin? Hat die nichts anderes zu tun? Wieso sammelt die keine toten Motten zum Zeitvertreib? Oder sprengt irgendwas, wie normale Irre?!“
Die Worte strömten über ihn hinweg und sickerten in ihm ein, doch er brauchte zu lange, um sie zu verstehen, und konnte einfach nichts Sinnvolles antworten, weil sie immer nur weiter redete, wild mit den Händen fuchtelte und ihn dabei ständig schlug, was sie offenbar entweder nicht mitbekam oder nicht interessierte.
Annie, Stopp. Stopp!“, rief er schließlich, mitten in einen Katalog von „sinnvolleren Beschäftigungen für untervögelte Knastigroupies“, den sie ohne Punkt und Komma über ihn ausschüttete, als hätte sie das Schweigen der letzten Stunde eigens dafür genutzt, um sich das alles auszudenken.
Sie hielt inne und sah ihn überrascht an.
„Was? Findest du das nicht irre?“

Er lächelte und wusste nicht genau warum. Diese Situation war so verrückt, so unglaublich und verstörend, und trotzdem musste er fast lachen. Recht hatte sie ja.
Doch natürlich...“, fing er an und nickte.
Aber... das ist doch nicht das, was dich an ihrer Geschichte eigentlich umgehauen hat, Annie. Deine Mutter...“
Sie nahm ihm den zweiten Umschlag aus der Hand.
Ja.“, sagte sie, „Ja, meine Mutter. Glaubst du, das ist wahr?“
Ich weiß nicht?“
Ich glaube schon. Leon wusste meinen Spitznamen, weißt du? Den von meinen Eltern. Den hatte ich selbst vergessen.“
Käferchen?“
Er sah zu, wie die Tränen in ihren Augen hochstiegen, als ob es ihr Gewissheit verschaffte, das Wort noch einmal zu hören.
Willst du den zweiten Umschlag öffnen? Ich kann dir den Brief vorlesen.“
Ich will nicht mehr. Ich kann jetzt nich noch einen... Ich weiß nicht was ich will.
Also bleiben wir einfach hier sitzen? Oder willst du nach hause?


Es war kurz still. Wenn man den wilden Gedankenwirrwar in ihrem Kopf kurz nachdenken nennen konnte, dann tat sie das gerade. Aber wahrscheinlich wäre das eine absolut falsche Wortwahl gewesen.
Simon beobachtete, wie hinter ihrer Stirn die Gedanken rasten. Fast konnte er ihre Angst und ihren Schmerz fühlen, das Unwissen und das Wissen und die Last der Wahrheit, die plötzlich nicht mehr so verlockend schien sondern furchteinflößend und gefährlich.
Er konnte sehen, wie sich die Leere in ihren Augen ausbreitete, bis nur noch ein großes Nichts da war.

„Jetzt hör doch endlich mal auf, mich zu fragen, was ich will.“, flüsterte sie schließlich.
Wenn er ehrlich war, hätte er es wissen müssen. Aber als sie ihn küsste, die Hände in seinen Haaren vergrub und sich an ihn presste, sodass nur noch der zweite rote Umschlag zwischen sie passte, wusste er gar nichts mehr.

I'm feeling lonely but what can you do?
It's only when its dark I'm thinking of you.

(Fallulah)
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Yay!! Ich MAG das Kapitel! :dance:

Okay, bisschen fies ist es natürlich schon, dass du mit dem zweiten Brief auf dich warten lässt, aber immerhin - es ist ein Anfang Big Grin

Jetzt wissen wir, dass Annes Mutter lebt und ich kann voll und ganz verstehen, warum Anne reagiert wie sie reagiert. Der letzte Absatz ist so was von genial, für mich passt das voll. Sie sollen sich küssen. Niemand wird Anne je so gut verstehen und so nehmen wie sie ist wie Simon. Und umgekehrt. Ich mag das! (Hoffentlich endet es aber nicht wieder schmerzvoll...)

Okay, Tina, das war was Spannendes zu Lesen vor der Schlafenszeit, dankeschön :herz:

Und bald weiterschreiben, damit wir bald weiterlesen können Big Grin[COLOR="Red"]

--- Beitrag hinzugefügt um: 23:34 Uhr. --- Verschmelzung, da weniger als 24 Studen alt. ---

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Zitat:Anne war aufgestanden und lief hin und her, murmelte vor sich hin. Bald würde sie in eine fremde Sprache verfallen oder eine Superkraft offenbaren, fürchtete Simon, aber es passierte nichts.

...
„Annie, Stopp. Stopp!“, rief er schließlich, mitten in einen Katalog von „sinnvolleren Beschäftigungen für untervögelte Knastigroupies“, den sie ohne Punkt und Komma über ihn ausschüttete, als hätte sie das Schweigen der letzten Stunde eigens dafür genutzt, um sich das alles auszudenken.
Big Grin Ich mag es, wie du immer deinen Humor in die Tragik mit einfließen lässt.

Life is to express, not to impress.
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Das Kapitel gefällt mir sehr gut Smile

Annes Mutter lebt also noch. Was für ein Schock für sie.

Du hörst an einer spannenden Stelle auf und wann will wissen wie es weiter geht. Wie geht es mit Simon und Anne weiter ? Was steht in dem zweiten Brief ?
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meine geliebten leserlein, ich weiß, ich bin sehr langsam. zum normalen stress kam dann eine schreibblockade in zeiten der langeweile, aber ich bin wieder da. mit zwei teilen!
wir nähern uns dem ende. in den letzten kapiteln wird es immer schwieriger, entscheidungen zu treffen, wie das ende für die einzelnen charaktere aussieht, aber es wird!

hier der erste der beiden neuen teile. der zweite muss noch gebetat werden, aber es wird nicht so lange dauern, wie sonst, bis ihr ihn zu lesen bekommt Smile


Dreiundvierzig
2011
Er sah sie an.
Sie zitterte, die Augen halb geschlossen, als wüsste sie nicht, ob sie sie gefahrlos öffnen konnte. Sie atmete hektisch, ihre Hände rutschten über seinen Hinterkopf nach unten und fanden keinen Halt. Sie war ihm nah. So nah, dass er seinen eigenen Herzschlag nicht mehr von ihrem unterscheiden konnte.
„Es tut mir leid.“, flüsterte sie schließlich, nach einer gefühlt endlosen Zeit.
„Scheiße, Simon, das tut mir so leid!“
Sie rutschte weg, hastig. Stand auf, stolperte zurück und sah ihn an. Jetzt war er es, der den Blick senkte.
„Tut mir leid. Das ist so.... Das tut mir so leid. Hörst du?“, stotterte sie.
„Scheiße. Ich... verdammte...“
Er blickte auf, nur bis zu ihrem Mund, nicht zu ihren Augen. Zu diesen sorgsam angemalten Lippen, die jetzt verschmiert waren.
Sie drehte sich um und rannte los. Bevor er reagieren, etwas sagen konnte, war sie weg.
Was tat ihr leid? Was war so verdammt scheiße?
Dass sie ihn geküsst hatte?
Oder dass er den Kuss erwidert hatte?


*
Er ließ den Wohnungsschlüssel in die Schale fallen und setzte sich auf die Couch. Draußen wurde es langsam dunkel. Sein Kopf schmerzte, das Pochen hinter seiner Stirn fühlte sich an, als würde etwas von innen unaufhaltsam dagegen springen, sich dagegen werfen mit all seiner Kraft, um endlich hinaus zu kommen. Vielleicht war es ein Gedanke. Aber welcher?
Er hatte seine beste Freundin geküsst. Sie hatte ihn geküsst. In umgekehrter Reihenfolge, aber wen interessierte das schon?
Sie hatte eine Entschuldigung, war so verwirrt von dem Tag, dass man ihre Aktion schon fast als normal betrachten konnte. Aber er? Klar, er war verwirrt. Er hatte sich seinem jahrelangen Peiniger gestellt, hatte ihn ausgetrickst, hatte ihr zur Wahrheit verholfen. Ob das so gut war, war eine andere Frage – sicher war nur, dass er lange nicht so verwirrt war wie sie. Sie, die bei allem zugesehen hatte, gedacht hatte er würde zum Mörder werden, sie, die erfahren hatte, dass ihre tot geglaubte Mutter lebte.
Er schüttelte den Kopf und biss sich dann auf die Lippe, denn Kopfschütteln wirbelte das herumspringende Etwas in seinem Kopf nur noch aggressiver gegen die Wände seines Schädels.
Was für eine aberwitzige Geschichte. Was für eine bescheuerte Geschichte. Hätte ihm jemand von diesem ganzen Wirrwarr berichtet, er hätte der Person einen Vogel gezeigt und gesagt „Das glaubst du doch selbst nicht!“.
Aber er musste es glauben. Denn wenn er jetzt noch anfing, sich einzureden, das hier sei nicht die Realität, dann würde er definitiv verrückt werden, so viel stand fest.
Er setzte eine Kanne Kaffee auf und begann, seinen Schreibtisch leer zu räumen. Woran er nicht denken wollte war der Kuss. Alles andere war zu extrem, zu verrückt um nicht darüber nachzudenken. Nur kurz spukte der Gedanke durch seinen Kopf, dass er vielleicht nicht wissen wollte, was wirklich die Wahrheit war. Er verscheuchte ihn. Konnte er jetzt noch zurück? Konnte Anne noch zurück? Nein.


Anne: ohne Erinnerung ins Heim gekommen.
Vater: Tot, hat Meyer das Versprechen abgerungen, die Wahrheit nicht zu sagen. Feuer. Mord.
Er unterstrich das letzte Wort und schaute es nachdenklich an. Der Schlüssel musste in Annes Vater liegen. Wer hatte ihn ermordet und vor allem warum?


Mutter: Lebt noch, Patientin in Krankenhaus seit Jahren. Angeblich an Rauchvergiftung gestorben. Lüge von Meyer /Annes Vater.


Noch während er schrieb, betrachtete er die Buchstaben, die sein Stift auf dem Papier formte. Ein Mord und eine Lüge, die weitreichende Folgen hatte. Wer hatte Annes Vater auf so brutale Weise getötet und ihre Mutter so schwer verletzt, dass sie nie wieder aus dem Krankenhaus gekommen war? Warum schützten die Eltern den Mörder und verschwiegen Anne die Wahrheit?
Er legte den Stift hin und stützte den Kopf in die Hände. So verwirrend das alles war, er konnte sich nur eine Lösung vorstellen, aber nicht einmal die glaubte er: Konnte Annes Vater in ein Verbrechen verwickelt sein? War das, was Anne erlebte, so eine Art privates Zeugenschutzprogramm für sie und ihre Mutter?
Simon konnte und wollte sich nichts vorstellen, was die Eltern seiner besten Freundin in ein schlechtes Licht stellte, aber er konnte sich auch nichts anderes vorstellen. Und immerhin: Er hatte sie nie gekannt, woher sollte er wissen, wie sie wirklich gewesen waren?
Eines war klar: Es hatte keinen Sinn, vor der Wahrheit wegzulaufen. Bevor er Anne auf die Idee brachte, ihre Eltern wären in irgendeiner Weise selbst schuld an den schrecklichen Ereignissen gewesen, würden sie den zweiten Brief lesen müssen.
Bevor er zum Telefon griff, trank er einen Schluck Kaffee. Dann die ganze Tasse.


*
„Simon, es tut mir so leid!“, rief sie ins Telefon, kaum, dass sie abgenommen hatte. „Ich hätte das nicht tun dürfen, ich weiß, dass wir nicht so sind, bitte verzeih mir!“
Er sagte nichts.
„Simon?“
„Annie, lass uns da jetzt nicht drüber reden, okay? Ist schon vergessen. Wie geht es dir?“
Sie atmete aus. Er war nicht böse und er wollte nicht mal mit ihr darüber reden! Erleichtert ließ sie sich auf die Couch sinken. Wie hätte sie ihm das auch erklären sollen, was da über sie gekommen war? Den jahrelangen besten Freund küsste man nicht einfach so, nicht mal, wenn man gerade erfahren hatte, dass die eigene tote Mutter noch lebte. Normale Leute würden dann weinen, vielleicht einen Nervenzusammenbruch kriegen, aber ganz bestimmt nicht plötzlich das Verlangen haben, jemanden zu Küssen, der immer wie ein Bruder für sie gewesen war... Mit den Händen durch seine strubbligen, leuchtenden Haare zu fahren und seinen Herzschlag zu fühlen, die angespannten Muskeln, stoppeligen Bart...
Sie kniff sich in den Arm. Sie war ja auch nicht normal, oder? Trotzdem war es eindeutig besser, er würde niemals danach fragen.
„Gut.“ antwortete sie nach ewiger Stille in der Leitung leise und räusperte sich.
„Ich mein... Den Umständen entsprechend, halt. Ziemlich verwirrt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Simon.“
Ihre Stimme klang wie die eines kleinen Mädchens. Hundertmal hatte er sie so gehört, wenn irgendwas passiert war, damals im Heim. Wenn jemand in der Schule nach ihren Eltern gefragt hatte oder nach ihren Narben. Aber heute war es anders. Heute war es ernst, das spürte er so deutlich, wie ihre traurige Stimme ihm fast physisch wehtat.
„Ich glaube du brauchst die Wahrheit. Wenn dein Vater nicht wollte, dass du weißt, dass deine Mutter lebt, ist es vielleicht zu eurem Schutz. Vielleicht darfst du sie nicht besuchen, weil sonst jemand von ihrem Aufenthaltsort erfahren könnte?“
Sie lachte leise.
„Klingt wie ein Agentenroman.“
„Wer weiß, vielleicht stecken wir in einem drin?“
Er lachte ebenfalls. Es tat gut, zusammen zu lachen. Dann schwiegen beide. Auch das tat gut.


„Also soll ich den Brief öffnen, meinst du? Den zweiten?“, wollte sie nach einer Weile wissen.
„Ich denke, was Leon macht birgt immer eine Gefahr. Ich glaube, du solltest etwas anderes machen.“
„Meine Mutter besuchen?“
„ Nein. Mayer.“
„Simon...“
Sie hatte sich eigentlich fest vorgenommen, Mayer nicht mehr zu belästigen. Seit seinem Sturz war er ohnehin in schlechter Verfassung – nicht nur körperlich – und ihr damit bestimmt keine große Hilfe.
„Er weiß doch nichts. Ich glaube wirklich, dass er alles vergessen hat.“, meinte sie zweifelnd und schloss die Augen.
„Vielleicht muss er nur erinnert werden.“


*
Simon lehnte am Klappermobil, als Anne am nächsten Morgen um 7 Uhr auf die Straße trat. Sie strich ihm flüchtig über den Arm und sah ihn nicht an, als sie ins Auto stieg. Er ließ sie in Ruhe. Der Lärm des Autos machte eine Unterhaltung ohnehin unmöglich.

„Lieber Himmel, das Klappermobil wird immer schlimmer!“, stellte Anne fest, als Simon vor dem Seniorenheim hielt und den Motor abstellte. Sie lächelte leicht und stieg aus. Heute sah das Haus groß und bedrohlich aus. Unbewusst schob sie sich näher zu Simon, der dies jedoch nicht bemerkte. Wie immer führte sie der erste Weg zur Rezeption.
„Mayer? Ist im Frühstücksraum. Er kann inzwischen wieder im Rollstuhl sitzen, aber geistig... Es sieht nicht so gut aus. Er hat stark abgebaut nach seiner Verletzung, die wenige Bewegung hat die Krankheit um Jahre fortschreiten lassen.“, bereitete die Dame an der Rezeption sie vor.
Im Frühstücksraum herrschte reges Treiben. Einige der älteren Damen halfen beim Abräumen und Kaffeenachschenken aus, einige dachten, sie täten dies, und stifteten dabei Chaos. Die Dame mit dem ausgestopften Pudel, die Anne von früheren Besuchen kannte, saß Mayer schräg gegenüber und entschuldigte sich bei ihm für „Waldi's“ schlechtes Benehmen. Mayer nickte und lächelte sanft.
„Ist doch keine Ursache. Der Gute ist eben ein bisschen verwirrt, das bin ich auch.“, meinte er beruhigend, als Anne und Simon an den Tisch traten.
„Wer bist du denn, Herzchen?“, fragte die Pudelfrau Simon und strahlte ihn an.
Anne kicherte.
„Wir besuchen Herrn Mayer.“, erklärte sie der Dame, die sie aber weitgehend ignorierte und Simon an der Hand auf den freien Platz neben sich zog.
„Anne Becker.“, stellte Mayer fest und lächelte traurig.
„Ich erinnere mich nicht, wirklich. Und selbst wenn - ich hab es einem sterbenden geschworen, Kind, ich kann mein Versprechen nicht brechen.“
Sie seufzte und setzte sich auf die Armlehne von Simons Stuhl, während ihr bester Freund versuchte, dem Gespräch zu folgen, ohne die Dame mit dem Pudel zu verärgern, die ihn in eine weniger aufregende Unterhaltung verwickeln wollte...
„Mayer, hör zu.“, begann Anne sanft.
„Ich habe hier einen Brief, der angeblich genau sagt, was damals passiert ist. Du musst mir nur sagen, ob es die Wahrheit ist.“
„Woher hast du das?“
„Von jemandem, der meine Mutter kennt.“
Mayer wurde blass.
„Deine Mutter ist tot.“
Die Pudelfrau unterbrach ihre Geschichte vom Hundeschaulaufen, als sie Mayers Gesichtsausdruck sah. Sie Griff nach Simons Arm.
„Junger Mann, die Frau belästigt ihn, bitte tun Sie etwas! Er hat doch Angst!“
„Vielleicht sollten wir uns woanders unterhalten.“, schlug er vor.
Anne stand auf und sah Mayer an.
„Es tut mir leid, Mayer, ich muss es wissen.“, entschuldigte sie sich leise.
Mayer atmete tief durch.
„Schiebst du mich in den Garten?“


Es war kalt im Garten, die Sonne schien noch nicht besonders stark und Nebel lag über dem Teich. Anne hatte Mayer neben eine Bank geschoben und sich selbst darauf gesetzt. Während sie auf Simon wartete, der versprochen hatte, die Pudelfrau zu beruhigen, begann Mayer, zu erzählen.
„Du warst so klein, Anne. Ich hätte deinem Vater alles versprochen, was dich schützt.“
Anne nickte nur traurig. Sie war nicht mehr drei Jahre alt. Sie war alt genug, um die Wahrheit zu erfahren, und konnte nichts dagegen tun, dass sie ein wenig wütend wurde. Hatte ihr Vater nicht daran gedacht, dass auch sie erwachsen werden würde? Dass sie Fragen haben würde?
Doch dann schämte sie sich für den Gedanken. Er wollte sie nur schützen, genau wie Mayer.
„Es tut mir leid, Mayer. Ich weiß, du hast ihm dein Versprechen gegeben und das hier ist sehr schwer für dich. Aber Simon kommt gleich mit dem Brief...“
„Welcher Brief?“
Sie seufzte. Er machte einen wachen Eindruck, und doch hatte er schon wieder vergessen, was sie ihm erst vor ein paar Minuten erklärt hatte.
„Ich möchte, dass du ihn liest. Du sollst mir sagen, ob es die Wahrheit ist, bevor ich ihn lese. Wenn du dich daran erinnerst.“
Sie legte ihre auf die faltige Hand des alten Polizisten.
„Danke, dass du all die Jahre auf mich aufgepasst hast, Mayer. Ich weiß, dass du es gut gemeint hast. Aber ich werde merken, wenn du lügst, hörst du? Wenn die Wahrheit in dem Brief steht, werde ich sie heute herausfinden.“
Der Alte nickte. „Kind, ich weiß nicht viel. Ich bin alt und müde. Möchtest du einen Keks?“
Sie sah ihn irritiert an. „Hast du einen Keks? Wir sind doch im Garten.“
Er wurde rot.
„Ich meine, etwas Saft...“
Anne stand auf und trat hinter ihn.
„Ist okay, Mayer. Du musst nur noch den Brief lesen, dann frag ich dich nie wieder. Dann kannst du vergessen.“, flüsterte sie in sein Ohr und legte die Arme um seinen Hals.
„Ich hab schon so viel vergessen.“, sagte er leise. „Nur schreckliche Sachen, an die erinnert man sich doch immer wieder.“

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(Fallulah)
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Waah, ich freu mich voll, dass es weitergeht! Smile

Und bin gespannt, was jetzt noch kommen wird, ob Annes Mutter wirklich lebt und wenn ja, in welcher Verfassung sie ist, was das Ganze damals sollte. Und Anne soll mal aufhören, sich bei Simon so viel zu entschuldigen. Der fand das doch gar nicht so schlimm, mensch.

Am meisten berührt hat mich die Aussage von Mayer am Schluss vom Kapitel..

Wie immer, total spannend geschrieben.
Bin auf jeden Fall noch dabei und freu mich auf das nächste Kapitel :herz:

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Obwohl ich keine brave FB-Dalasserin bin, habe ich die ganze Geschichte verfolgt, und bin jetzt wirklich sehr gespannt darauf wie es ausgeht.

Ich find deinen Schreibstil wirklich toll, es ist flüssig zu lesen, du baust tolle Spannung auf und die Charaktere sind so liebenswert, trotz ihrer Fehler.

Freu mich schon auf die nächsten Kapitel, und hoffentlich ein Happy End Smile

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ich will dir eine watschen
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ich freue mich immer so, dass es nach der ganzen zeit, die ich euch hängen lasse, immer noch leute gibt, die diese geschichte lesen und feedback geben :herz:
vielen dank dafür Smile
wir versprochen jetzt mal in kürzerem zeitabstand das nächste kapitel, das mel mir brav korrigiert hat.
(dieses mal hat sie euch vor einigen seltsamen satzkonstrukionen bewahrt.)

also, ich weiß zwar schon seit dem anfang der geschichte, was damals passiert ist, aber es dann wirklich mal aufzuschreiben, hat mich ganz schön mitgenommen. jetzt will ich euch aber nicht länger auf die folter spannen. zumindest nicht mit annes geschichte.

Vierundvierzig
August 1992
„Zum Teufel, Jo, was hast du gemacht?“, rief David entsetzt und lief die Wendeltreppe hinunter.
Josephine Becker stand am Fenster.
„Sie waren hier, David. Sie hatten Anne.“
Er hörte nur mit halbem Ohr hin.
„Wo ist mein Autoschlüssel? Jo, wo ist mein Schlüssel?“

Er nahm ihren Arm und schüttelte sie.
„Wir müssen ins Krankenhaus, verdammt. Das ist so viel Blut! Was hast du gemacht?“


2011
Simon kam nur wenig später. Anne hatte sich auf die Bank gesetzt und hielt Mayers Hand, als Simon den Brief aufriss. Mayer nahm den Brief entgegen und begann zu lesen.
Während er las, setzte sich Simon neben Anne. Gestern, als sie auf einer solchen Bank gesessen hatten, war es passiert. Sie hatte ihn geküsst, und er hatte sie geküsst. Und es war nicht, wie seine Schwester zu küssen. Ganz ehrlich nicht. Auch wenn er sich in der Vergangenheit immer gesagt hatte, dass es so sein würde. Es war anders gewesen. Er wusste es, sie wusste es auch. Nur weil sie nicht darüber sprachen, würde es nicht verschwinden.
Wieso passierte in seinem Leben eigentlich immer alles auf einmal? Erst der Artikel über seinen Vater in der Zeitung, zu dem Zeitpunkt, als er sich mit Anne gestritten hatte. Dann die Beziehung mit Valerie, eine merkwürdige Selbstfindungsmission bei der er nichts gelernt hatte, außer, dass er eine extrem nachsichtige Chefin hatte.
Er hatte Anne endlich seine gesamte Geschichte erzählt und ihr ganz nebenbei noch eine Rippe geprellt. Und dann war da noch der Kuss von Anne und Mark gewesen, den er gesehen hatte – und jetzt war Mark verlobt, während er selbst immer noch nicht verstand, was gerade in seinem Leben passierte. Denn das, wozu das alles geführt hatte, war doch nur eins: Er war erwachsen geworden - nicht durch das Haarefärben, sondern durch das Herauswaschen der Farbe.
Er hatte sich seinem Vater gestellt und hatte ihn ausgetrickst. Er hatte gewonnen. Und doch war er schon wieder nur noch verwirrt, von diesem Kuss. Er wusste, dass es nicht nur die Verwirrung war, die Anne dazu gebracht hatte.
Seit dem Gefängnisbesuch war sie komisch gewesen – verständlicherweise, aber nicht so, wie er gedacht hatte.
Gerade in diesem Moment spürte er ihre kalte Hand in seiner und fand zurück aus seiner Gedankenwelt. Sie betrachtete atemlos wie Mayer las und las... und las.


August 1992
„Du brauchst den Schlüssel nicht. Es ist vertane Zeit, David. Du kannst ihr nicht helfen.“
So einfach sagte sie das und sah ihn an.
„Bist du mir böse?“
„Böse?“, echote er müde.

„Ich wollte nicht, aber ich musste. Du wirst immer so böse, wenn ich von ihnen rede, aber ich musste doch etwas tun! Und jetzt ist es vorbei. Es ist vorbei!“ Sie brach in Tränen aus und sackte an seiner Brust zusammen.
„Du hast recht, es ist vorbei.“
Er ließ sie los und nahm sich den Verbandskasten, der an der Wand hing. Dann ließ er sie stehen.
„David!“
„Später, Josephine.“
„Nein!“
2011
Er saß da, als wäre das hier kein besonderer Tag, oder vielmehr, als wäre es ein sehr besonderer Tag. Er nahm ihre Hand, als sie sie in seine schob, aber er hing seinen Gedanken weiter nach. Und wenn sie ehrlich war, wusste sie, worüber er nachdachte. Sie wusste, dass sie noch darüber reden mussten. Aber nicht heute. Nicht, bevor sie alles andere geklärt hatte, was ihr Leben zu diesem wirren, kaputten Haufen gemacht hatte, der es war.
Die letzten Wochen waren das totale Chaos gewesen und wirklich – sie war chaotisch, aber so schlimm war es normalerweise nicht.
Sie hatte die Uni ewig nicht mehr von innen gesehen und musste ihr Studium mit Sicherheit um ein Semester verlängern. Sie hatte Simons ganze Geschichte erfahren und erlebt, was es bedeutet, einen Menschen abgrundtief zu hassen – dank Leon. Und sie hatte es fertig gebracht, ihren Exfreund, dem sie ewig nachgetrauert hatte, wieder mit seiner Verlobten zusammen zu bringen. Naja, letzteres war nicht wirklich ihr Verdienst, aber sie hatte ihn immer wieder ermutigt und jetzt würde er heiraten. Damit schloss sich eine Tür für immer, und obwohl sie sicher war, dass sie diese ohnehin nie wieder öffnen wollte... Es war ein verdammt seltsames Gefühl.
Nicht so seltsam wie der Kuss, allerdings. Der mit Simon, nicht der mit Mark. Verdammt, wieso musste sie auch im Moment jeden Kerl knutschen, der es länger als 3 Minuten in ihrer Nähe aushielt?
Das alles rückte fast in den Schatten, von dem was heute auf sie wartete: Die Wahrheit.
Oder doch nur ein neuer Rückschlag? Immer mehr zweifelte sie daran, dass sie es überhaupt wissen wollte. Aber dann... konnte sie doch ohnehin nicht anders, als immer weiter zu suchen, bis sie wusste, was passiert war. Wer ihre Eltern getötet hatte. Woher ihre Narben kamen. Sie hatte schließlich ihr ganzes Leben lang nach der Wahrheit gesucht.


August 1992
„Jo, ich hab jetzt keine Zeit. Ich muss Anne helfen, verstehst du das denn nicht?“
„Was soll das heißen, es ist vorbei, David?“

Er war müde. Die letzten Wochen waren hart gewesen, fast nicht zum Aushalten. Er hatte sich das alles einfacher vorgestellt. Wie schwierig konnte es schon sein mit seiner Familie glücklich zu werden?
„Wir reden später, okay?“, antwortete er nur und drehte sich weg, um sie nicht länger anzusehen. Sie war so schön, selbst jetzt. Und so voller Angst, aber er war nur noch wütend.
Er ging die Wendeltreppe hoch und fand seine Tochter am oberen Ende sitzend.

„So, Käferchen, lass Papi mal schauen.“
Anne sah ihn aus ihren großen Augen an. Aber nicht ihre Augen waren es, die in ihrem Gesicht hervorstachen, sondern der tiefe Schnitt, senkrecht, parallel zur Nase. Der Schnitt am Hals hatte ihn zunächst am meisten geschockt, aber er war nur oberflächlich, ebenso wie der Schnitt an ihrem Arm. Wie durch ein Wunder waren keine wichtigen Arterien verletzt worden.
David nahm Verbände aus dem Kasten und versorgte die Wunden an Arm und Hals.
„Mein tapferes Mädchen.“, sagte er dabei zärtlich. „Es tut mir so leid!“
Er hatte Tränen in den Augen, das sah seine Tochter sofort.
Es machte ihr Angst.
Ihr Papa war der stärkste Mann der Welt. Nichts konnte ihn umhauen, niemand konnte ihn von ihr fernhalten. Abends las er ihr so lange vor, bis sie zum Klang seiner ruhigen Stimme einschlief. Die Geschichten waren ihr egal, nur, dass ihr Papa da war, das war wichtig.
Jetzt weinte er fast. Wegen ihr? Sie wusste wirklich nicht, was sie falsch gemacht hatte. An diesem Tag waren so viele seltsame und schmerzhafte Dinge passiert, doch jetzt konnte sie ihn nur noch mit großen Augen ansehen und sich verarzten lassen. Sie war selbst zum Weinen zu müde.
Als letztes drückte er eine Kompresse auf den Schnitt im Gesicht und klebte sie fest. Jetzt war sie fürs Erste versorgt. Große Schmerzen schien sie nicht zu haben, aber David war unsicher. Er wollte so schnell wie möglich ins Krankenhaus.
„Komm her, Käferchen.“
Er nahm sie auf den Arm und trug sie ins Kinderzimmer auf den Spielteppich.

„Ich bin gleich wieder da.“


2011
Es dauerte eine Weile, bis Anne auffiel, dass Mayer nicht mehr las. Er saß nur da und starrte auf das Papier. Sein Blick genügte, um zu wissen: Er wusste die Wahrheit wieder, denn sie stand in dem Brief.
Anne nahm ihn aus seiner Hand. Bevor sie selbst zu lesen begann, schaute sie Mayer ein letztes Mal prüfend an.
Er nickte.
„Vielleicht ist es am besten so.“, sagte er müde. Dann schloss er die Augen und lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück.
Anne sah auf den Brief. Eine andere Schrift als zuvor, so verschnörkelt, dass sie ihre Augen anstrengen musste, um zu lesen. Aber sie wusste: jetzt oder nie.
Wenn sie den Brief jetzt nicht las, würde sie sich nie trauen, und ihre ganze Suche wäre umsonst gewesen. Das ewige Durchkämmen der Polizeiakten, das viele Geld, das sie für Privatdetektive ausgegeben hatte, das ewige Betteln bei Mayer- aber vor allem Simons Konfrontation mit Leon.
Noch immer wurde ihr heiß und kalt bei dem Gedanken daran, wie sie für einen Moment geglaubt hatte, Simon könnte jemanden töten.
Wie er von Sekunde zu Sekunde größer geworden war, sicherer. Wie seine ganze gewohnte Verwirrtheit in einem Moment verschwand … Sie hatte keine Angst vor ihm gehabt, nur um ihn. Aber sie war fast sicher, jeder andere wäre in diesem Moment am liebsten vor ihm weggelaufen.
Sie warf einen Seitenblick auf ihren besten Freund, der sie erwartungsvoll ansah. Etwas von der Bedrohlichkeit, oder besser von der plötzlichen Sicherheit, konnte sie noch immer an ihm sehen.
Er hatte sich verändert. Vielleicht war das der Grund, wieso...
„Annie? Der Brief... Worauf wartest du?“
Irgendwie irritierte es sie, dass er plötzlich anfing mit ihr zu reden. Bis vor ein paar Sekunden war er für sie eher ein Bild gewesen, das man ungeniert anstarren konnte, aber leider war er lebendig. Also, zum Glück, eigentlich...
„Soll ich wieder lesen? Hast du Angst?“, fragte er leise und schien ihren Anstarr-Ausrutscher nicht bemerkt zu haben.
Sie lächelte und nahm wieder seine Hand, dann vertiefte sie sich ohne Worte in den Brief.


Liebe Anne,
ich schreibe diese Zeilen mit unglaublichen Erwartungen. Fast 20 Jahre habe ich auf den Zeitpunkt gewartet, dass jemand meine Seite der Geschichte hören will.
Es kann sein, dass du es nicht glauben wirst. Ich weiß, dass dir gesagt wurde, ich wäre in dem Feuer gestorben, erstickt. Das ist nicht die Wahrheit, wie dir jetzt bewusst sein wird.
Meine Aufgabe in diesem Brief ist aber, dir zu erklären, wie das Feuer zustande kommen konnte.


Ich habe deinen Vater und dich geliebt, mehr als alles andere auf der Welt. Aber dein Vater, er hat nicht verstanden, wie gefährlich die Welt sein kann. Er hat nicht verstanden, was dort draußen lauert.
Als du auf die Welt kamst, habe ich mich sehr um dich gesorgt. Ich wusste, dass sie irgendwann kommen werden und dich mir wegnehmen würden, und als ich genug Zeichen gesehen hatte, erzählte ich deinem Vater davon.
Er versuchte mich zu beruhigen, brachte mich zu Therapeuten, zu Psychiatern, ich bekam Tabletten verschrieben, und bald dachte ich nicht mehr an die Gefahr.
Für eine Weile waren wir sehr glücklich, dein Vater, du und ich. So glücklich, dass wir uns bald ein zweites Kind wünschten.
Für deinen kleinen Bruder oder deine Schwester wären meine Tabletten sehr schlecht gewesen, deshalb durfte ich sie nicht mehr nehmen.
Und das war gut so! Denn etwa 3 Wochen, nachdem ich die letzte genommen hatte, kamen sie in unser Haus. Ich hatte schon eine Weile den Verdacht gehabt, dass sie uns auflauern, aber dein Vater wollte nichts davon hören. Und dann war er bei der Arbeit, und sie waren plötzlich da. Ich wusste, sie waren dagewesen und ich wusste, sie hatten eines ihrer Geräte in dich eingepflanzt. Also tat ich, was ich tun musste – ich nahm ein Küchenmesser und setzte drei Schnitte, so wie ich es gelernt hatte. Ich setzte drei Schnitte und es verließ deinen Körper.


August 1992
Er hatte befürchtet, dass etwas derartiges passieren würde. Immer hatte er gehofft, dass sie nicht gefährlich werden könnte, aber es war anders gekommen. Und er liebte sie so sehr. Würde sich seine Familie je wieder davon erholen können, was gerade passiert war? Seine Frau hatte ein Küchenmesser genommen und seine Tochter aufgeschlitzt, um die Aliens zu verjagen. Er konnte nicht daran denken, es war so absurd, so gruselig, so ohne jede Lösung vollkommen verrückt.
„Jo, ich werd‘ mit ihr ins Krankenhaus fahren. Sie braucht Hilfe.“, teilte er seiner Frau mit, während er die Wendeltreppe hinunterlief, um seinen Autoschlüssel in Ruhe zu suchen, bevor er Anne holte.
„Ich habe ihr schon geholfen.“, sagte sie ruhig.
„Und jetzt helfe ich uns.“
Er blieb stehen, sah sie an. Sah den Eimer mit Reinigungsmitteln, aus dem sie nacheinander die Flaschen nahm, um deren Inhalt auf die Kücheninsel zu gießen, den Boden, alles. Und dann die Packung Streichhölzer.
„Jo... beruhige dich. Es ist alles gut. Sie sind weg, du hast sie verjagt...“ redete er auf sie ein. Es war völlig sinnlos. Im Wohnzimmer hörte er schon das Knacken und Rauschen, in der Küche legte sie ruhig ein brennendes Streichholz auf die Arbeitsplatte und die Flammen schlugen hoch.
„Sie werden niemals weg sein, David...“
Er drehte um, ohne sie weiter zu beachten. Er rannte die Treppe hoch, fiel fast, stürmte ins Spielzimmer und hob seine Tochter vom Teppich. Josephine folgte mit Eimer und Streichhölzern.
Zuerst musste Anne raus, dann würde er sich um seine Frau kümmern. Zuerst Anne, zuerst Anne.... Die Haustür war abgeschlossen.
Er rüttelte an der Tür, suchte seine Schlüssel, fand nichts. Die Fenster waren ebenso verriegelt, er schlug eines ein, kletterte hindurch und legte Anne in sichererer Entfernung auf den Rasen. Das Haus brannte, das Feuer war inzwischen auch im zweiten Stockwerk deutlich zu sehen.
„Ich hole deine Mami, Käferchen. Warte hier. Ich bin gleich wieder da.“

Anne sah ihn nur an. Sie weinte nicht, sie schrie nicht, nur die großen Augen sagten „lass mich nicht allein!“...
Aber er liebte seine Frau, und sie war irgendwo dort drin. Irgendwo in diesem Haus, irgendwo in dieser Wahnsinnigen.
Durch das Fenster kletterte er wieder hinein, lief die Treppen hoch, folgte dem Geräusch ihrer Schritte auf den Holzdielen bis unter die Luke zum Dachboden.
„Josephine, bitte, komm mit raus.“, rief er nach oben.
Er hatte es ihr nicht zugetraut, bis sie mit dem Eimer in den Händen an der Luke erschienen. Auch nicht als es auf ihn heruntertropfte. Nein, erst als die Streichhölzer fielen.



I'm feeling lonely but what can you do?
It's only when its dark I'm thinking of you.

(Fallulah)
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:eek2:...:eek2:

"An actors job is the business of telling the truth in an imaginary situation."
- Tom Hiddleston
 
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Wie aussagekräftig ein Feedback sein kann @ Kayara Big Grin

Als ich den Teil gebetat habe dachte ich mir nur WTF was ist denn da schief gelaufen ;D

Und damit war nicht unbedingt der Satzbau gemeint, der mich anfänglich auch ein wenig verwirrt hat.

Nein, viel mehr die "Aliens" o.O
Ich frage mich, liebste Tina - wie lange du diese Geschichte noch ziehen willst - kommen bald die Men in Black und blitzdingsen alle? ^^
Das soll nicht abwertend klingen (du kennst mich ja) aber ich fand es schon ziemlich krass.
Aber nun gut, mal sehen was du draus machst Wink

Krass fand ich einfach nur den letzten Abschnitt: psychisch total im Eimer die Frau, ich würde Anne wünschen sie nicht kennen zu lernen o.O

Und die Lovestory zwischen Anne und Simon... ausbauen! Ich will mehr davon

Freundschaft flieߟt aus vielen Quellen, am reinsten aus dem Respekt
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danke ihr zwei.
und ja, als ich das geschrieben hab dachte ich mir auch nur so "aaaalter josephine, kann es nicht wenigstens die mafia sein?" aber was soll ich sagen, wenn paranoide schizophrenie, dann aber richtig.... sorryBig Grin ich nehm an daa hat einige etwas kalt erwischt.

I'm feeling lonely but what can you do?
It's only when its dark I'm thinking of you.

(Fallulah)
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