~*Kapitel 8*~
Hartford, Frühsommer 1969
Beinahe selbst den Tränen nahe, trug Emily die lauthals schreiende und weinende Lorelei durch das Kinderzimmer. Sie fragte sich verzweifelt weshalb die Medizin, die es schlieÃlich geschafft hatte furchtbare Krankheiten wie Pest und Cholera erfolgreich zu bekämpfen, es nicht endlich fertigbrachte ein verdammtes Heilmittel gegen die Schmerzen bei den ersten Zähnen auf den Markt zu bringen. Sie hatte alles versucht was möglich gewesen war, dennoch hatte Lorelei in den letzten Tagen kaum geschlafen und nur wenig gegessen. Langsam fragte Emily sich, warum sie nicht auf das Drängen Lorelei Gilmores eingegangen war und eine Amme eingestellt hatte. Selbst wenn die Kleine sich für kurze Zeit beruhigte, konnte sie kein Auge zutun. Sie fühlte sich so hilflos, ihre Tochter wimmerte geradezu erbärmlich und alles was sie tun konnte, war sie im Zimmer umher zu tragen, beruhigend auf sie einzureden und zu hoffen das es ihr bald besser ging. Wenn wenigstens Richard dagewesen wäre, aber nein, er reiste mal wieder irgendwo in der Weltgeschichte umher. Lediglich seine Mutter beehrte sie täglich mit ihren Besuchen und penetranten Ratschlägen - ohne auch nur eine Sekunde damit aufzuhören die kleine Lorelei misstrauisch zu mustern, um endlich feststellen zu können das keinerlei Ãhnlichkeit mit den Gilmores vorhanden war.
Emily lies sich auf einen Schaukelstuhl fallen und wiegte ihre Tochter sanft hin und her. Gerade als sie anfing einzuschlafen, ertönte die Türglocke in ihrer vollen Lautstärke und es war um Loreleis Schlaf geschehen. Emily hätte am liebsten selbst laut aufgeheult, ihre Schwiegermutter wusste doch genau das ein Säugling im Haus war, weshalb benutzte sie also nicht ihren verfluchten Schlüssel, sondern läutete jedesmal Sturm!?!?! Emily schloss die Augen und atmete tief durch, egal wie schwer es ihr fiel, sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Richards Mutter würde schon von alleine darauf kommen, dass das Hausmädchen seinen freien Tag hatte und sie sich gefälligst selbst Einlass verschaffen musste.
Ohne sich durch ein Klopfen anzukündigen, betrat Lorelei Gilmore das Zimmer. âWie ich höre hast du es noch immer nicht geschafft das Kind zu beruhigenâ, bemerkte sie in ihrem arroganten Tonfall und Emily wäre ihr am liebsten an die Gurgel gesprungen.
âSie zahnt, Mutter, da gibt es nicht viel was ich tun könnteâ, sie strich ihrer Tochter über den Rücken und erhob sich. âMöchtest du einen Tee?â
âNein, danke.â Lorelei musterte sie skeptisch. âRichard hat nie geschrien. Selbst als er im Alter von drei Monaten eine Kolik hatte, hat er nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ein echter Gilmore, durch und durch.â
Emily legte die wild zappelnde Lorelei in ihr Bett und deckte sie vorsichtig zu. âVersuch wenigstens ein bisschen zu schlafen, Engelchen,â flüsterte sie und wand sich an ihre Schwiegermutter. âLass uns bitte in den Salon gehen, ich brauche jetzt dringend einen Kaffee.â
âEmily! Ich bin erstaunt. Du kannst doch das arme Kind hier nicht alleine lassen. AuÃerdem habe ich dir doch schon ein Dutzend mal gesagt, dass Kaffee während der Stillzeit schädlich ist. Dadurch führst du das Kind schon als Säugling in eine Abhängigkeit. Ich habe erst neulich gelesen, das die Kinder Cracksüchtiger Frauen schon als Junkies zur Welt kommen. AuÃerdem verstehe sowieso nicht weshalb du selbst stillst. Das tun....â
â...nur Mägde, Wilde und Tiereâ, beendete Emily den Satz in Gedanken, sie hatte schon vor Wochen damit aufgehört zu zählen, wie oft Lorelei Gilmore ihr diesen Satz an den Kopf warf. Sie wusste auch was als Nächstes kommen würde. Das erneute Drängen endlich ein Kindermädchen einzustellen, der Vorwurf sie würde sich zu selten bei den Treffen des Frauenvereins und anderen gesellschaftlichen Ereignissen sehen lassen â was natürlich nur darauf zurückzuführen war, dass sie sich vehement weigerte jemanden für
das Kind einzustellen. Das war es was sie am meisten hasste. Wenn Richard nicht dabei war, nannte ihre Schwiegermutter Lorelei immer nur
das Kind oder
deine Tochter. Nicht Richards Tochter, nicht ihr Enkelkind, sondern nur Emilys Kind. Um Lorelei in die Erbschaftsfolge der Gilmores aufzunehmen, hatte ihre Schwiegermutter sogar darauf bestanden einen Vaterschaftstest in die Wege zu leiten,
`In der heutigen Zeit verlangen Notare geradezu beglaubigte Nachweise, vor allem wenn es sich um derartig hohe Summen handelt. Besser wir tun es jetzt, sonst bekommt die Kleine später womöglich Schwierigkeiten wenn alles schnell gehen muss. AuÃerdem handelt es sich doch nur um eine Formalität´.
Eine völlig unnötige Formalität, selbst ein Blinder hätte die Ãhnlichkeit zwischen Richard und seiner Tochter erkennen können, alleine die blauen Augen der beiden sprachen Bände. Emily seufzte, sie kannte das Ergebnis und bald würde auch Lorelei damit aufhören müssen, ihre Enkeltochter als Fremdkörper in der Familie zu behandeln.
â.....ich kann dich in diesem Punkt wirklich nicht verstehenâ, beendete Lorelei ihre Tirade.
âIch weiss, Mutterâ, antwortete Emily so ruhig wie möglich.
âDann solltest du endlich etwas unternehmenâ, sie warf einen Blick auf ihre mit Diamanten besetzte Armbanduhr. âIch muss jetzt zur Vorstandssitzung des Museums. Einer muss die Familie Gilmore schlieÃlich würdevoll in der Ãffentlichkeit vertreten. Du entschuldigst mich.â Lorelei Gilmore rauschte davon und ihre Schwiegertochter schloss die Augen, sie war endgültig am Ende mit den Nerven. âNur fünf Minutenâ, sie nahm ihre mittlerweile wieder lauthals brüllende Tochter aus dem Bett. âNur fünf Minuten, bitte, fünf verdammte Minuten.â Sie atmete scharf ein als sie bemerkte, dass sie die Kleine nahezu angeschrien hatte. âGott, es tut mir leid, Schätzchen.â, sie begann Lorelei wieder im Zimmer auf und ab zu tragen. âSchhhhhhhhh, es ist ja alles gut, Kleines, alles ist gut.......â
Irgendwann wusste Emily nicht mehr wie lange sie Lorelei schon umher getragen hatte, sie hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Eine Hand auf ihrer Schulter lies sie erschrocken zusammenfahren.
âKeine Angst, ich binâs nurâ, ertönte Richards Stimme und sie lehnte sich erleichtert an ihn, froh darüber seine Nähe zu spüren.
âWas machst du denn hier? Ich dachte....â
âMeine Mutter hat mich angerufen. Sie meinte du wärst heillos überfordert. Also habe ich Dickens die Verträge in die Hand gedrückt, bin in den nächsten Flieger gestiegen und hier bin ichâ, liebevoll küsste er seiner Tochter auf den Kopf, ein Kopf der seiner Meinung nach perfekt und nicht, wie seine Mutter und mittlerweile auch Emily behaupteten, zu groà war. âDein Daddy ist wieder da.â Er nahm Emily Lorelei ab. âDu solltest dich etwas ausruhen, Liebling, ich werde mich um die Kleine kümmern.â Seine Frau sah ihn dankbar an. Normalerweise hätte sie sich wegen der Einmischung ihrer Schwiegermutter aufgeregt, aber momentan war sie einfach nur glücklich, das Richard da war â egal aus welchen Gründen, er war da und das war alles was zählte.
Detroit, Herbst 2004
Jerusha schenkte sich und Lorelei etwas Scotch nach und musterte ihr Gegenüber. âIch denke wir sollten das mit dem Sie lassen, es käme mir sonst reichlich albern vor hier mit ihnen zu sitzen und über Emily zu sprechen.â
Lorelei lächelte zustimmend und verbeugte sich so gut es im Sitzen ging. âLorelei Victoria Gilmoreâ, die Gläser der beiden stieÃen klirrend aneinander und Jerusha konnte sich ein gewisses Grinsen nicht verkneifen. âWas ist?â fragte Lorelei erstaunt.
âAch nichts,â sie schüttelte den Kopf. âEs ist nur, nun ja, dein zweiter Vorname, wir haben denselben.â Jerusha atmete kurz durch und setzte sich wieder auf die Fensterbank. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass Emily sie scheinbar doch nicht ganz aus ihrem Leben gestrichen hatte â sonst hätte sie ihre Tochter niemals so getauft.
âWowh,â Lorelei konnte eine gewisse Verwunderung nicht verbergen. âDas ist irgendwie ziemlich ââ
âAbsurdâ, beendete Jerusha ihren Satz. âUnd wenn man weiss das Emily dir diesen Namen gegeben hat durchaus schmeichelhaft.â Noch immer schmunzelnd ordnete sie ihre Gedanken ein letztes Mal. âEmily und ich, wir kennen uns â nun ja, solange ich denken kann. Wir sind gemeinsam aufgewachsen, gemeinsam zur Schule und aufs College gegangen. Wir haben eigentlich alles zusammen gemacht. Ich weià nicht was du über deine GroÃeltern weiÃt, Lorelei, schlieÃlich hast du sie nie kennen gelernt. Nun â ich schon. Alyson Goddeyle, deine GroÃmutter, war die exzentrischste Frau die ich in meinem ganzen Leben getroffen habe. Sie war egozentrisch und verwöhnt, was auch nicht weiter verwunderlich ist, schlieÃlich hatten ihre Eltern Geld â viel Geld. Sie waren eine der angesehensten Familien in ganz Detroit und in den 30ern hatte das noch was zu bedeuten. Alyson war ihr einziges Kind, die Goddeyles verwöhnten sie von klein auf nach Strich und Faden, sie bekam alles was sie wollte und tat alles was sie wollte. Als sie 17 war lernte sie Thomas Heywood kennen. Er war das was man heute einen Loser nennen würde, ein Nichtsnutz der sein Leben lang keinen Finger gerührt hat. Ich weià nicht ob Alyson sich in ihn verliebte und falls ja â später war in der Ehe der beiden nicht mehr viel davon zu spüren. Wie auch immer, Alyson wurde schwanger und Thomas ihr Ehemann. Sie heirateten und gingen von da an getrennte Wege.
Alyson verbrachte ihre Zeit damit Partys zu geben, teueren Schmuck und Kleidung zu kaufen, hin und wieder ein Kind zur Welt zu bringen und nun ja, die Männer verrückt zu machen. Im Hause Heywood ging jeder ein und aus wie es ihm passte, Erwachsene, Kinder, Hunde und Katzen. Es war das reinste Chaos, kein Tag verging an dem die Villa nicht voll gestopft war mit Gästen, Gäste die die GroÃzügigkeit der Gastgeberin zu schätzen wussten. Und Alyson war wirklich groÃzügig. Wenn jemand Geld brauchte gab sie es ihm ohne auch nur nachzufragen wofür - sie hatte schlieÃlich genug mit in die Ehe gebracht und auch Thomas Eltern waren nicht gerade das was man arm nennt.
Während sich das Leben seiner Frau auf Detroit und die Villa zentrierte, reiste Thomas Heywood umher. Es gibt wohl kaum ein Land in dem er nicht war. Wenn er alle zwei, drei Jahre von seinen Reisen zurückkehrte, brachte er immer unzählige Kisten voll exotischer Souvenirs mit. Afrikanische Masken, Löwentatzen, Elefantenzähne, keltische Münzen, russischer Bernstein, indische Seide â ich habe nie wieder so viele schöne Dinge auf einem Haufen gesehen. Thomas packte also die Kisten aus, verteilte seine Trophäen im Haus und reiste wieder ab ohne mehr als notwendig gesprochen zu haben. Er war kein Mann der groÃen Worte und das hat sich bis heute nicht verändert, er ging nach Alysons Tod 1966 nach Afrika und soweit ich weiss hat er sich nie wieder bei Emily oder ihren Geschwistern gemeldet. Natürlich nur soweit ich weiss, denn seit ich das letzte Mal mit Emily gesprochen habe ist einige Zeit vergangen. Wobei auch das nicht ganz stimmt, da ich sie um ganz ehrlich zu sein erst vor wenigen Wochen gesehen habe.â
Lorelei, die bislang schweigend zugehört hatte fuhr erstaunt auf. âAber ich dachte ihr....â
âSie war in Dorham, für ungefähr zwei Minuten und hat mich dazu gebracht Rory weiterhin zu empfangen.â
âUahhh, das ist sowas von typisch für sie â als ob Rory das nicht alleine hinbekommen hätte. Ständig mischt sie sich in alles einâ, schimpfte Lorelei wütend drauf los, doch Jerusha unterbrach sie.
âGlaub mir, wäre Emily nicht aufgetaucht, hätte ich mich ganz bestimmt nicht bei Rory entschuldigt. Aber ich bin deiner Mutter vieles, eigentlich alles in meinem Leben schuldig. denn ohne sie hätte ich niemals auf die Universität gehen können.â Sie bemerkte wie unruhig Lorelei wurde und bremste sie aus ehe sie etwas sagen konnte. âDu hast versprochen mir zuzuhören, also tue es bitte auch. Ein Leben lässt sich nicht in einer Minute erzählen und schon gar nicht erklären.â Sie steckte sich eine Zigarette an um ihrer Unsicherheit und Nervosität Herr zu werden. âAls ich vier war begann meine Mutter als Köchin bei den Heywoods zu arbeiten und ich lernte die ganze Sippe kennen. Obwohl ich und Emily gleichaltrig sind, waren wir anfangs nicht befreundet. Denn während ich zusammen mit den anderen Heywood-Kindern - und denen die gerade zu Besuch waren - durch die Flure und den Garten tobte, war Emily immer unglaublich ernst. Sie war geradezu unfassbar brav, obwohl niemand sich darum scherte wie sie und ihre Geschwister sich verhielten. Sie war die Einzige unter ihnen die immer sauber gekleidet war, Manieren zeigte und sich so verhielt wie es dem Namen der Heywoods gerecht gewesen wäre. Aber ich glaube sie war deswegen auch sehr einsam, all ihre verzweifelten Anstrengungen die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu gewinnen nützten nichts, weder die besten Noten noch all ihre Auszeichnungen im Tennis, Golf oder weiss der Teufel was, änderten etwas am Desinteresse Alysons. So verbrachte Emily die meiste Zeit alleine in ihrem Zimmer â man hätte sie beinahe für einen Geist halten können. Ich sah sie eigentlich nur in der Schule und auch dort beachtete ich sie nicht sonderlich â bis wir acht waren und sie Preston Lodge auf dem Schulhof zwei Zähne ausschlug. Gott, Preston war ein verzogener Bengel aus gutem Hause, der auf alles und jeden herabsah. Es machte ihm Spaà andere zu triezen und schlecht über sie zu sprechen â die Heywoods waren ein gefundenes Fressen für ihn. Emily hatte ihn gewarnt, sie hatte ihm oft genug gesagt er solle endlich damit aufhören schlecht über sie und ihre Familie zu sprechen. Aber er tat es nicht, also ballte sie eines Tages ihre Hand zu einer Faust und schlug zu. Ich war sprachlos â alles hatte ich von ihr erwartet, nur nicht das. Prestons und seine Freunde waren glücklicherweise auch überrascht â ich nutzte die Schrecksekunde, packte Emily bei der Hand, zog sie vom Schulhof und wir versteckten uns für den Rest des Tages auf dem Dachboden der Heywoods. An diesem Tag wurden wir Freundinnen, sie hatte sich mit dieser Aktion nicht nur meinen Respekt verdient, sondern ich habe auch erkannt das sie viel mehr war als nur die langweilige Streberin, die ich bislang in ihr gesehen hatte. Ich entdeckte so vieles an ihr, von dem ich nicht gewusst hatte das es da war. Ihr Humor, ihr Sinn für alles Schöne â sie war die erste die meine Bilder schön fand. Und ich konnte mich immer auf sie verlassen, egal um was es sich handelte, sie war für mich da.
Je älter wir wurden desto bestimmter wurde Emily, sie hatte längst die Hoffnung aufgegeben jemals in der Gunst ihrer Eltern zu stehen, dafür hatte sie gelernt zu bekommen was sie wollte. Als sie vierzehn war überzeugte sie Alyson davon sie auf ein Internat in New Haven zu schicken. Nicht nur das, sie sorgte auch dafür das ich sie begleiten konnte. Verstehst du jetzt was ich eben meinte, Lorelei? Ich hätte niemals eine weiterführende Schule besuchen können, wenn die Heywoods nicht dafür aufgekommen wären, wenn Emily es nicht von ihnen verlangt hätte. Weiss der Himmel was aus mir geworden wäre, wahrscheinlich eines der Hausmädchen die Emily so gerne feuert, jedenfalls wäre ich niemals Malerin geworden.
Aber so standen mir all die Möglichkeiten offen, die damals nur Mädchen aus gutem Hause hatten. Ich musste nicht mit Vierzehn anfangen zu arbeiten, sondern konnte weiterhin zur Schule gehen.
Das Internat war zwar nicht gerade das was ich unter blühendem Leben verstand, aber Emily fühlte sich wohl. Denn während ich immer davon geträumt hatte die Welt zu sehen, Abenteuer zu erleben, zu malen, wollte Emily nur eines â Normalität. Sie hatte den Trubel in ihrem Elternhaus ebenso wie die anzüglichen Bemerkungen, die sie jeden Tag in der Schule über sich ergehen lassen musste, gehasst. Sie verabscheute all die Männer die sie âOnkelâ nennen musste, obwohl sie genau wusste dass es die Geliebten ihrer Mutter waren. Und davon waren wirklich reichlich vorhanden, denn Alyson wusste genau wie man mit Männern umgeht, sie brachte alle dazu nach ihrer Pfeife zu tanzen. Sogar ihr Mann tat es bei seinen selten Aufenthalten, denn obwohl Alyson nach deinem ältesten Onkel Jonathan noch fünf weitere Kinder zur Welt brachte, blieb er das einziges gemeinsames Kind der Heywoods. Thomas sagte nie etwas dazu. Er zuckte lediglich mit den Achseln wenn er bei seiner Heimkehr wieder mal ein neues Familienmitglied vorfand, unterschrieb gleichgültig die notwendigen Papiere und vergaà die Sache wieder. Die zwei waren eigentlich wie füreinander geschaffen, denn sie hatten eines wirklich gemeinsam: Sie dachten ohne Rücksicht auf Verluste stets nur an sich selbst. So schafften Alyson und Thomas es in kürzester Zeit die Namen der Familien Goddeyle und Heywood in Verruf zu bringen. Sie haben es aber auch geschafft den Namen Heywood bekannt zu machen, er wurde zum Symbol für Lasterhaftigkeit und Verschwendungssucht, für alles was man nicht tat â auch wenn man insgeheim davon träumte.
Daher war es nicht so einfach alles hinter sich zu lassen, wie Emily es sich vielleicht vorgestellt hatte. Obwohl New Haven über 800 Meilen von Detroit entfernt liegt, war der Name der Heywoods jedem ein Begriff, natürlich, in den Kreisen der oberen Zehntausend kennt man sich nun mal. Jeder wusste das die Heywoods nahezu bankrott waren, da weder Thomas noch Alyson sich um die Firmen kümmerten. Jeder wusste das Alyson das war, was man nur hinter vorgehaltener Hand sagt. Jeder wusste das Thomas ein absonderlicher Phantast auf der Suche nach längst verlorenen Schätzen war. Jeder wusste das Emily aus dieser Familie kam und lies es sie wissen, sei es mit Worten, Taten oder abschätzigen Blicken. Die anderen Mädchen im Internat wagten es meist nicht einmal von ihren Freunden zu sprechen, da sie die absurde Vorstellung hatten Emily würde sie ihnen sonst wegnehmen. Sie hätte es auch geschafft, wenn sie es gewollt hätte, darauf kannst du Gift nehmen. Denn Emily hat viel von ihrer Mutter geerbt, auch wenn sie sich das niemals eingestehen würde. Dazu gehörte leider nicht nur Aussehen und Ausstrahlung, sondern auch eine gewisse Weltfremdheit. Ich erinnere mich noch genau an ihre erste Verabredung, wie glücklich sie darüber war, dass wenigstens die Männer nichts von all dem Geklatsche zu halten schienen. Nun, sie hielten viel davon und erhofften sich das die Tochter wirklich ganz nach der Mutter gekommen sei, es war jedesmal dasselbe â bis sie deinen Vater kennenlernte.
Gott, sie war so verliebt in ihn. Du kannst dir das vielleicht schwer vorstellen, aber sie hat von nichts anderem als ihm gesprochen, sie war sich sicher endlich das gefunden zu haben wonach sie solange gesucht hatte â bis sie erfuhr dass er verlobt war.â Jerusha unterbrach sich und starrte auf das Scotchglas in ihren Händen. Auch Lorelei versuchte ihre Gedanken zu ordnen, sie hatte in den letzten Minuten mehr über ihre Mutter erfahren, als in den bisherigen fünfunddreiÃig Jahren ihres Lebens. âAber sie hat ihn doch geheiratetâ, sagte sie schlieÃlich nahezu lautlos.
âJa, das hat sie. Sie hat zwar versucht ihn zu vergessen, aber sie hat es nicht geschafft. Sie hatte sich hoffnungslos in diesen Mann verliebt und war bereit für ihn all ihre Prinzipien über Bord zu werfen - selbst dann wenn er Pennilyn geheiratet hätte. Aber Richard meinte es ernst, er meinte es wirklich ernst mit ihr und löste seine Verlobung mit Pennilyn Marchester. Die beiden wurden ein Paar. Das perfekt Paar in meinen Augen, aber meine Wenigkeit hat in der gehobenen Gesellschaft natürlich nichts zu sagen. Die anderen Mädchen waren skeptisch bis empört und Richards Mutter war schockiert. Ihr einziger, innig geliebter Sohn hatte Pennilyn Marchester für eine Heywood verlassen â jemand aus dieser Familie konnte unmöglich die passende Ehefrau für ihren Sohn sein und das lies sie Emily auch spüren. Es würde mich nicht wundern, wenn sie auf einem Vaterschaftstest für dich bestanden hätte, schlieÃlich war deine andere GroÃmutter berühmt für ihre Eskapaden. Das war auch der Grund weshalb Emily nie wieder hierher kam â sie schloss dieses Kapitel ihres Lebens und begann ein neues. Sie hat schon immer versucht es allen recht zu machen, aber plötzlich war sie nicht wieder zu erkennen. Sie arbeitete rund um die Uhr daran sich selbst neu zu erschaffen, sich ihre eigene, kleine, perfekte Welt zu erschaffen, eine Welt in der kein Platz für jemanden aus ihrer Vergangenheit war und irgendwann war auch sie selbst nahezu verschwunden. Ich habe sie einfach nicht mehr wiedererkannt.â Jerusha sah Lorelei lange an ehe sie fort fuhr. âDas Schlimmste daran ist, das sich all ihre Mühe nicht gelohnt hat. Es ist als ob sie ihr Leben lang an einem Kartenhaus gearbeitet hat und es plötzlich unter ihren Händen in sich zusammenbricht.â
Lorelei runzelte nachdenklich die Stirn. âIch verstehe nicht weshalb sie mir das nie erzählt hat.â
âGott, Lorelei.â Jerusha schüttelte seufzend den Kopf. âSeit Emily ein kleines Kind war hat sie sich ausgemalt wie ihr Leben aussehen sollte. Alles was nicht in dieses Bild ihrer perfekten Welt passt, blendet sie einfach aus. Glaubst du also wirklich ernsthaft sie würde dir oder irgendjemandem sonst auf der Welt und zwar am wenigsten sich selbst eingestehen, dass ihre Mutter eine neurotische Fremdgeherin war und sie keine Ahnung davon hat wer ihr Vater ist? Es gab soviel Gerede das ihr eigentlich niemand verübeln kann, dass sie es einfach nur vergessen wollte. Ich weià nicht mal ob sie jemals mit Richard darüber gesprochen hat. Das einzige was ich weià ist, das ich dir niemals davon hätte erzählen dürfen. Aber ich habe es trotzdem getan. Also versprich mir, Emily nie davon zu erzählen. Versuche einfach nicht nur diese unglaublich herrische Frau mit dem Kontrollzwang in ihr zu sehen, sondern einfach nur â nur Emily.â
âIch kenne keine Emily die anders wäre als meine Mutter. Ich weià nicht ob ich etwas anderes in ihr sehen kann als die Frau die sich ständig in alles einmischt.â Lorelei lies sich das eben Gehörte durch den Kopf gehen. âWenn Thomas Heywood nicht, wenn er nicht mein leiblicher GroÃvater ist â wer ist es dann?â, fragte sie zögernd.
âIch weiss es nicht, ich glaube Alyson wusste es nicht einmal selbst â sie brachte die Kinder zur Welt, übergab sie der Amme und wand sich wieder dem Vergnügen zu.â
Hartford, Herbst 2004
Schwungvoll fuhr Richard auf den Parkplatz des âChez Luiâ, löste seinen Gurt und knallte die Tür seines Jaguars zu. Er hatte gesehen wie Emily weggefahren war â mitten in Nacht â und was sie konnte, konnte er schon lange. Weshalb sollte er zuhause sitzen und sich den Kopf zerbrechen, wenn seine Frau um die Häuser zog? AuÃerdem war er jetzt ja sozusagen wieder auf dem freien Markt, Emily hatte ihm endgültig eine Abfuhr erteilt. Sie wollte ihn nicht mehr und er konnte es ihr nicht einmal sonderlich verübeln. In all den Jahren ihrer Ehe hatte er mehr Zeit im Büro als Zuhause verbracht und jetzt hatte sie ihm die Quittung dafür serviert. Und obwohl er ganz genau gewusst hatte wie Emily darauf reagieren würde, hatte er sich jahrelang heimlich mit Pennilyn getroffen. Aber das war er ihr schuldig gewesen, er hatte sie drei Wochen vor ihrer Hochzeit sitzen lassen. Als er sie im Frühjahr 67 auf einer Wohltätigkeitsauktion wieder getroffen hatte, hatten sie das stille Abkommen zu einem jährlichen Dinner vereinbart â nicht mehr und nicht weniger. Ein Dinner, ein einfaches Essen mit dem positiven Nebeneffekt, dass Stephen Lott weiterhin Kunde bei seiner Firma blieb. Seine Mutter hatte all das eingefädelt und er war ihr sehr dankbar dafür gewesen, sie war einfach eine Heilige gewesen. Aber all das war jetzt nicht mehr von Bedeutung.
Wenn ihn jemand vor kurzem danach gefragt hätte was das Wichtigste in seinem Leben sei, hätte er ohne zu zögern mit âmeine Frauâ geantwortet. Er hätte es nicht nur so dahin gesagt, sondern es wäre sein voller Ernst gewesen. Warum hatte er sich dann also nicht so verhalten? Warum hatte er gewartet bis es zu spät war?
Er erinnerte sich noch an die Nacht vor beinahe fünf Jahren, den Abend der Weihnachtsfeier, den Abend als er im Krankenhaus lag und dachte er würde sterben. Er erinnerte sich an Emilys Blick, die Dinge die sie gesagt hatte, er erinnerte sich an seinen Entschluss kürzer zu treten, sich mehr um sie zu kümmern. Und nicht nur um sie, sondern auch um Lorelei und Rory. Vor seinem geistigen Auge sah er seine Tochter, er sah Lorelei wie sie an seinem Bett stand und nicht wusste was sie sagen sollte â aber sie war dagewesen, ebenso wie Rory, sie waren beide dagewesen.
Er war nicht kürzer getreten, sein kurzer Ausflug in den Ruhestand hatte ihm gezeigt, dass er für ein Leben als Faulenzer nicht geschaffen war. Er hatte es regelrecht gehasst, Arbeit war für ihn wie die Luft zum Leben. Aber er hatte es eindeutig übertrieben und jetzt war es endgültig zu spät. Er kannte Emily gut genug um zu wissen, das sie ihren Willen durchsetzen würde, sie würde sich scheiden lassen. Was danach kommen würde wusste er nicht, natürlich erst einmal die Formalitäten einer Scheidung. Unterhaltszahlungen mussten verhandelt und gemeinsame Güter aufgeteilt werden. Wer behält das Haus, wer welchen Wagen, welches Sofa â Richard setzte sich an die Bar und bestellte sich einen Martini. Er wollte nichts davon, es würde ihn doch nur an sie erinnern. Er könnte sich eine Wohnung kaufen und sie ganz nach seinem Geschmack einrichten. Andererseits hatte er keine Ahnung von solchen Dingen, dass hatte Emily immer für ihn getan. Sie hatte nicht nur das Haus eingerichtet, sondern auch dafür gesorgt das er stets die neuesten Anzüge, Schuhe und Fliegen besaÃ. Er würde in Zukunft wohl oder übel selbst einkaufen gehen müssen â vielleicht könnte er das ganze auch via Internet erledigen, so sparte er sich die Zeit in eine dieser furchtbaren Malls zu gehen.
Richard wurde schlagartig bewusst wie lächerlich es doch war sich Sorgen über seine Garderobe zu machen, während Emily wahrscheinlich lachend in einer Bar saà oder â noch schlimmer â mit irgendeinem Mann eng umschlungen tanzte. Womöglich trug der Kerl eine Krawatte. Sie hasste Krawatten, aber es sähe ihr durchaus ähnlich sich jetzt aus Trotz mit einem blasierten Krawattenträger einzulassen. Je mehr er sich mit diesem Gedanken beschäftigte, desto mehr steigerte er sich in eine Mischung aus Wut und Enttäuschung hinein. Vielleicht war seine viele Arbeit, sein Verhalten egoistisch gewesen â aber hatte er es nicht für Emily getan? Dafür das sie ein angenehmes Leben führen konnte und alles bekam was sie wollte? Und das hatte sie, bei Gott, sie hatte mehr als jeder vernünftige Mensch brauchte. Sollte sie doch jetzt auch noch diesen verdammten Idioten mit der schlecht sitzenden Krawatte bekommen.....
Detroit, Herbst 2004
Lorelei saà auf dem Mädchenbett ihrer Mutter und betrachtete nachdenklich das Brautkleid, dass sie um sich herum ausgebreitet hatte. Sie versuchte sich Emily darin vorzustellen, wie sie es nach der Trauung ausgezogen, auf den Bügel gehängt und zusammen mit ihrem bisherigen Leben zurückgelassen hatte. Sie schmunzelte, wenn Emily etwas tat, dann tat sie es gründlich.
âLorelei?â, fragte Jerusha zaghaft. âIch denke wir sollten uns langsam wieder auf den Rückweg machen.â
Sie atmete tief durch und nickte. âJa, das sollten wir.â Lorelei nahm das Kleid und hängte es an seinen alten Platz zurück. âEs ist wirklich wunderschön.â Sie sah Jerusha an. âBei meiner Junggesellinnenparty hat meine Mutter erzählt, dass sie es in der Woche vor ihrer Hochzeit jeden Abend heimlich angezogen hat.â Lorelei schluckte. âUnd ich, ich dachte mir: Wowh, das will ich auch, ich will mich auch jeden Abend ins Wohnzimmer schleichen und mein Brautkleid anziehen. Aber ich habâs nicht getan, ich hab nicht mal daran gedacht. Und wenn sogar Emily Gilmore so etwas Absurdes, unglaublich SüÃes tut, dann sollte ich es doch erst recht tun. Ich bin nämlich diejenige in der Familie die solche verrückten Dinge tut. Also habe ich mein Brautkleid zurückgegeben und das warâs.â Sie rang sich ein Lächeln ab. âGanz schön bescheuert, was?â
Jerusha schüttelte sanft den Kopf âIch halte es für sehr vernünftig.â
âAber es gibt keine Garantie, die gabâs nicht mal für meine Mutter und sie hätte bestimmt gut dafür bezahlt.â
âAuch Garantien laufen irgendwann ab.â
âKann sein, aber nicht für Tupperware, da gelten sie lebenslänglich.â Sie fuhr sich durch die Haare. âIch werde eines Tages in meinem Schaukelstuhl sitzen und die längste Beziehung meines Lebens mit meiner Tupperschüssel geführt haben.â
âDann hoffe ich für dich, dass sie wenigstens gut aussieht.â
Lorelei lachte unter Tränen. âDarauf kannst du wetten.â
Dorham, Herbst 2004
Müde schloss Jerusha die Autotür hinter sich und zog ihren Haustürschlüssel hervor. Sie wollte gerade aufschlieÃen als ihr Blick auf eine zusammengekauerte Gestalt auf der Bank in ihrem Garten fiel. Leise setzte sie sich neben sie und nahm sie in den Arm. âIst ja gutâ, sie streichelte ihr übers Haar und hielt sie so fest sie konnte.
âIch habâs versucht, wirklich, aber ich kann es nichtâ, Emily schluchzte. âIch bin heute Abend in meinen Wagen gestiegen und dachte mir, ich werdâs ihm zeigen, ich werde ihm beweisen dass ich ihn nicht brauche. Ich bin mit dem blödsinnigen Vorsatz aus dem Haus, dass ich mich mit anderen Männern genauso gut amüsieren kannâ, ihre Stimme bebte. âAber ich, ich habâs nicht mal bis in die verdammten Bar geschafft. Ich saà zwei Stunden in meinem Wagen und habe wie eine Wahnsinnige den Eingang angestarrt. Ich konnte einfach nicht - und dann, dann sehe ich wie Richard aus seinem Wagen steigt, stolz und unbekümmert in die Bar spaziert und sich jetzt vermutlich mit irgendeinem Flittchen amüsiertâ, mit zitternden Händen wischte sie sich einige Tränen aus dem Gesicht. âGott, sieh mich an, ich sitze hier wie ein kleines Kind und heule und du tröstest mich auch noch, dabei hättest du allen Grund mich von deinem Grundstück zu jagen.â Emily erhob sich, aber Jerusha hielt sie zurück.
âBlödsinn, Emily. Ich werde dich in diesem Zustand ganz bestimmt nicht irgendwohin fahren lassen.â
âIch will dich nicht belästigen, ich weià nicht einmal weshalb ich hergekommen bin.â Emily rieb sich mit einer Hand die rechte Schläfe und kämpfte gegen den Tumult in ihrem Kopf an âIch bin so durcheinander, alles ist so absurd....â, ihre Stimme versagte.
âKein Wunder, du siehst auch furchtbar aus â wann hast du das letzte Mal geschlafen, mmhh?â Emily wollte ihr widersprechen, lies es jedoch sein. Sie wusste das Jerusha eine Lüge sofort als solche erkennen würde. Also zuckte sie nur hilflos mit den Achseln und lies es zu, dass Jerusha sie am Ellenbogen packte und ins Haus zog.
To be continued....
ATN: Wie versprochen hab ich mich rangehalten und es sogar noch geschafft vor der heutigen Folge zu posten
In diesem Kapitel steckt viel, viel Liebe und noch mehr Arbeit, so will ich nur positives hören â und zwar gaaaaanz, gaaaaanz viel davon *GG* Riska PS: Hoffe euren Wunden geht's gut und ihr habt lustige Pflaster drüber geklebt