Hallo meine SüÃen :knuddel:
Das neue Kapitel ist endlich fertig, ich hoffe, es gefällt euch.
Ich freu mich über jedes Feedback.
Schönes Wochenende noch!
Bussi Selene
49. Teil
Lillian
Als die ersten Takte von Que le den candela ertönten, zog Lillian Arturo zurück zu dem Tisch, zu welchen sich Elena und Antonio vor wenigen Minuten ebenfalls wieder gesetzt hatten. Carmen und Javier tanzten währenddessen immer noch, was von Antonio grinsend kommentiert wurde: âSie bekommen gar nicht mehr genug von einander.â
Lillian wischte sich den Schweià von der Stirn und nahm einen groÃen Schluck ihrer Soda. Arturo legte einen Arm um ihre Schultern und bemerkte an seinen Freund gewandt: âDas wird sich ändern, so bald sie erst mal wirklich verheiratet sind.â
Lillian betrachtete ihn Stirn runzelnd. âOffenbar weià ich da etwas nicht.â Sie blickte zu Elena, welche nur mit den Schultern zuckte und Carmen hektisch winkte. Diese antwortete lediglich mit einem fröhlichen Lachen, worauf Lillian meinte: âSie versteht deine Zeichen nicht.â
Wenige Minuten später kamen Carmen und Javier schlieÃlich zum Tisch zurück und schenkten den Freunden ein kurzes Lächeln. Ehe sich die junge Frau setzen konnte, hatte Elena jedoch ihren Arm ergriffen. âEntschuldigt uns einen Moment.â, sagte sie zu den Männern und deutete Lillian mitzukommen. Dieser entfuhr ein Grinsen. âWie unauffällig...â
âWas ist denn los?â Carmen folgte den beiden Stirn runzelnd in den Sanitärraum. Kaum hatte Lillian die Tür hinter ihnen geschlossen, ergriff Elena Carmens Hände. âWie konntest du so etwas nur verschweigen?â
Carmen musterte sie einen Augenblick irritiert, ehe sie begriff. Ihre Wangen wurden plötzlich von einer leuchtenden Röte überzogen. Sie wippte unruhig auf und ab. âWoher weiÃt du das? Javier und ich wollten es doch eigentlich erst bei der Feier nächste Woche verkünden...â Sie schüttelte den Kopf. âIch wusste es, Männer tratschen doch mehr als Frauen...â
Elena gestikulierte ungeduldig mit den Händen. âDas tut doch jetzt nichts zur Sache...es stimmt also?â
Carmen schenkte Lillian, welche etwas unbeteiligt wirkend neben ihnen stand, einen kurzen Blick. âJa.â Ein Lächeln überzog ihr hübsches Gesicht. âWir werden heiraten. Im kommenden Winter schon.â
Lillian und Elena umarmten sie kurz. âDas ist schön.â, meinte erstere lächelnd.
âWann hat er dich gefragt?â, erkundigte sich Elena.
Carmen strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. âBei der Hochzeitsfeier meiner Schwester.â
âWow...vor deiner ganzen Familie...das ist so romantisch!â Elena lächelte.
âAuÃer wenn sie abgelehnt hätte...â, gab Lillian zu bedenken, worauf ihr die Freundin einen strengen Blick schenkte.
Carmen zuckte mit den Schultern. âSie hat recht. Das wäre sehr unangenehm gewesen. Allerdings war es ohnehin klar, dass wir früher oder später heiraten würden...â Ihre Stimme wurde sanfter, als sie den überraschten Blick der Freundinnen bemerkte. âMissversteht mich nicht, ich bin glücklich. Ehrlich. Aber es war eben nicht wirklich überraschend. Wir sind schlieÃlich schon ewig zusammen und Javier deutete diese Absicht schon mehrmals bei Papá an, welcher stets erfreut darauf reagierte.â
Elena verharrte einen Augenblick, ehe sie widerwillig den Kopf schüttelte. âUnd dennoch war der Zeitpunkt überraschend.â Wenn Elena sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann wurde es zum unwiderruflichen Faktum. Obwohl ihr Leben von dunklen Schatten gekennzeichnet war, oder gerade deswegen, hatte sie sich eine romantische Seite im Herzen bewahrt. âIch freue mich so für euch.â Sie umarmte Carmen ein weiteres Mal. Die Freundin lieà es einige Sekunden zu, ehe sie sich sanft von ihr löste. âSo...genug für mich gefreut. Zurück zu dem wirklich Wichtigen.â Sie wandte sich an Lillian. âUnsere Kleine ist endlich erwachsen geworden.â
Lillian rollte mit den Augen. âSoviel älter als ich bist du nun auch wieder nicht.â
âWas sollâs?â Carmen zuckte mit den Schultern. âWir sollten irgendetwas Verrücktes machen.â
Lillian blickte unsicher zu Elena, welche in ihrer Tasche wühlte und einen knallroten Lippenstift hervorzog. âWas ist verrückter, als sich hier stundenlang zu unterhalten? Lasst uns wieder tanzen gehen.â
Elena zog ihre Lippen nach und beobachtete die beiden im Spiegel. âHast du eine Idee, Carmencita?â
Carmen runzelte die Stirn. âNichts, was wir uns leisten könnten. Ich habe noch nicht einmal ein Geschenk für dich.â Sie biss sich auf die Unterlippe.
Lillian zuckte mit den Schultern. âDas ist doch nicht wichtig. AuÃerdem hast du mir zwei Getränke bezahlt.â
Carmen wollte gerade etwas erwidern, als die Tür aufging.
âZickenalarm.â, zischte Elena leise, als sie Yolanda und Carla erblickte. Die beiden registrierten die drei nur mit einem kurzen, verächtlichen Blick, ehe sie sich mit einer Puderdose bewaffnet ihren Spiegelbildern zuwandten.
âVersucht ihr zu retten, was geht?â, entfuhr es Elena.
Carla, welche gerade etwas Puder auf die rechte Wange tupfen wollte, hielt einen Moment inne, ehe sie sich umdrehte. âHast du mit mir gesprochen?â
âHat es sonst noch jemand nötig?â
Carla schenkte ihr ein süffisantes Lächeln, ehe sie sich an Carmen wandte. âMan hört, Javier hätte dich endlich gebeten, ihn zu heiraten.â
Carmen runzelte die Stirn. âHört man das?â
âHat das nicht etwas lange gedauert? Seit wann seid ihr nochmals zusammen?â
âWenn du uns etwas Bestimmtes mitteilen möchtest, solltest du das deutlicher sagen.â Lillian schenkte ihr einen kalten Blick.
Carla ignorierte sie und musterte Carmen eingehend. âDu wartest doch schon seit zwei Jahren darauf.â
Eine tiefe Falte bildete sich auf Carmens Stirn, sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, es gelang jedoch kein Wort über ihre Lippen.
âDie Frage ist eher...â, begann Yolanda, ohne der Angesprochenen einen Blick zu schenken.
âwarum er so lange gewartet hat...â
Elena funkelte sie wütend an und warf Lillian einen widerwilligen Blick zu, als diese nach ihrem und Carmens Armen griff und die beiden zur Tür zog.
âHey Lillian...â
Die Angesprochene drehte sich seufzend um und bereute diese Reaktion sogleich. âWas?â Sie traf den Tonfall so kalt, wie geplant.
Carla musterte sie eingehend. âMan hört, du hättest deinen Abschluss geschafft. Da du noch immer keinen Job hast, nimmst du wohl an, dass dich irgendein College doch noch mit offenen Armen empfangen wird. Sieh es ein, auch wenn du dich aufgrund deiner Herkunft für etwas Besseres hältst, das bist du nicht.â Sie wechselte einen Blick mit Yolanda. âWie die Mutter, so die Tochter...â
Lillians Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen. Als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, dass Elena gerade im Begriff war, etwas zu sagen, fing sie sich wieder und zog die Freundinnen aus dem Sanitärraum.
Bei einem kleinen Stehtisch angekommen, stemmte Elena die Arme in die Hüften und musterte Lillian und Carmen ungläubig. âWarum lasst ihr euch das gefallen? Ihr bestätigt ihren Spott damit!â Sie musterte Lillian Stirn runzelnd. âDu hast gerade den dritten Weltkrieg verhindert, Lilly. Sei bloà nicht stolz darauf.â
Lillian ignorierte den verhassten Spitznamen und schüttelte den Kopf. âSie fühlen sich ohnehin in allem bestätigt, egal, wie man reagiert. Am besten ist es, sie zu ignorieren.â
Elena rollte mit den Augen. âWelch weise Worte...du bist manchmal wirklich zu gut für diese Welt.â
Die Freundin zuckte mit den Schultern. âIch muss Prioritäten setzen und sich über diese unreifen Hühner aufzuregen, wäre Zeit- und Energieverschwendung.â
Elena betrachtete sie nachdenklich. Sie wusste, wie sehr Carlas Worte sie in Wirklichkeit verletzt hatten, beschloss das Thema aber im Moment zu belassen. âDu hast recht. Wir brauchen die Energie für wichtigeres. Wie deine Feier.â Sie lächelte aufmunternd und hängte sich bei Lillian und Carmen ein. Erst in diesem Moment fiel ihr der verunsicherte Gesichtsausdruck der letzteren auf. Sie löste sich von Lillian und fasste Carmen an beiden Händen. âSie sind nur neidisch. Das weiÃt du.â
Carmen seufzte leise. âJa. Aber trotzdem...sie haben recht. Er redet schon so lange darüber, warum hat er mich erst jetzt gefragt?â
âWeil du moderner eingestellt bist als er und er die Sorge hatte, es könnte dir zu schnell gehen? Bitte, mach dir darüber keine Gedanken. Javier liebt dich.â Elena hob Carmens Kinn.
Lillian strich über Carmens Arm. âDas tut er, dafür lege ich beide Hände ins Feuer. Aber du weiÃt, wie manche Männer sind. Sie brauchen etwas länger zu dem groÃen, letzten Schritt.â
Carmens Gesichtmuskeln begannen sich zu entspannen. âIhr habt ja recht. Ich bin manchmal einfach zu ängstlich.â Ihre Stimme klang fester, jedoch noch nicht völlig überzeugt.
Als die drei zurück zum Tisch kamen, waren Arturo, Antonio und Javier so in ein Gespräch vertieft, dass sie die Frauen zuerst gar nicht bemerkten.
Elena stemmte die Arme in die Hüften. âWir mögen zwar nicht so aufregend wie ein V8 Motor sein, aber diese Ignoranz kommt geradezu einer Beleidigung gleich.â
âEin V8 Motor?â Javier lächelte amüsiert. âNicht sehr aufregend.â
Elena rollte mit den Augen. âWen interessiert es?â Sie lieà sich genervt neben Antonio sinken, welcher Lillian einen fragenden Blick zuwarf.
Diese zuckte mit den Schultern. âWir hatten nur eine Begegnung mit Carla und Yolanda.â Sie setzte sich neben Arturo, welcher sie näher an sich zog. Carmen lieà sich ebenfalls neben Javier sinken und schenkte ihm ein leichtes Lächeln.
Antonio betrachtete Elena belustigt. âDu bist verdammt sexy, wenn du so in Rage bist. Was haben euch denn die beiden getan?â
Elena rollte mit den Augen. âSie haben den Mund geöffnet. Sollten sie lieber bleiben lassen, da sowieso nichts Sinnvolles dabei rauskommt.â
Antonio schmunzelte. âDu überrascht mich immer wieder.â Er schob ihr ein Glas zu. âWir haben noch etwas für euch bestellt.â
Elena ergriff das Glas wortlos und hielt es sich vor die Nase, um daran zu riechen. SchlieÃlich machte sie einen kräftigen Schluck.
âStark genug?â
Sie nickte. âPerfekt.â
Lillian lehnte sich währenddessen an Arturos Brust und beobachtete die beiden nachdenklich. Ihr Freund riss sie schlieÃlich aus ihren Gedanken. âIst wirklich alles in Ordnung bei dir?â
Sie wandte sich ihm zu und nickte leicht. Ihr gelang ein Lächeln. âMach dir keine Sorgen.â
Arturo spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. âWas haben sie gesagt?â, fragte er so leise, dass nur Lillian es verstehen konnte.
Sie schüttelte seufzend den Kopf. âNur, dass ich mich für etwas Besseres halten würde. Das übliche.â Sie zuckte mit den Schultern und versuchte, möglichst gleichgültig zu wirken. âNur weil ich noch keinen Job habe, bedeutet das für sie, dass ich daran glaube, noch auf einem College angenommen zu werden.â
Arturo runzelte die Stirn. âWolltest du nicht in der Flamenco Bar arbeiten?â
Lillian nickte. âMr. Sanchez hatte mir im Prinzip schon zugesagt, doch kürzlich meinte er, er könnte mich doch nicht einstellen. Wer weiÃ, warum...â
âIch war ohnehin nicht von dieser Idee begeistert...â
âJob ist Job.â
Arturo musterte sie nachdenklich. âDie Bar ist nicht mehr das, was sie einst war. Ich habe keine Lust mit ansehen zu müssen, wie dich alte, betrunkene Kerle lüstern anstarren.â
âNun verdiene ich aber gar kein Geld.â
Er fuhr sich Stirn runzelnd durchs Haar. âDu könntest eine zeitlang bei uns im Laden aushelfen, wenn du möchtest. Besonders viel können wir dir aber nicht bezahlen.â
Lillian lächelte dankbar. âDas wäre toll. Ich werde eine ehrgeizige und flexible Arbeitskraft sein.â
âHast du sonst noch etwas vorzuweisen?â
âWird das jetzt ein Vorstellungsgespräch?â
Arturo zuckte mit den Schultern. âMacht man das nicht so?â
Lillian schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. âIch habe sehr viel vorzuweisen.â
Er lachte. âOkay, überzeugt. Du kannst übermorgen anfangen. Für die nächsten beiden Wochen können wir jede Kraft brauchen.â
âUnd dein Vater wird nichts dagegen haben?
Arturo schüttelte den Kopf. âIm Gegenteil. Hilfe ist immer willkommen, auch wenn wir sie uns nicht lange leisten können.â
Lillian nickte. âIch werde mich natürlich weiterhin umsehen.â
âVielleicht bekommst du ja doch noch einen erlösenden Anruf.â
Sie runzelte die Stirn. âDas bezweifle ich. Doch allmählich muss ich mich damit abfinden. Es gibt ja auch ein nächstes Jahr.â Sie mühte sich um ein Lächeln.
âHey, lasst uns an eurem Gespräch teilhaben.â Elena blickte neugierig von Lillian zu Arturo. Ihre Freundin hob die Stimme. âArturo bot mir nur an, eine zeitlang bei seiner Familie auszuhelfen.â
Elena nickte. âDas ist gut.â
Javier tauschte einen kurzen Blick mit Carmen, ehe er sich an Lillian wandte. âWenn du möchtest frage ich meine Cousine, ob sie im Cafe jemanden brauchen können. Eine Kellnerin hört in etwa drei Wochen auf.â
Lillian lächelte. âDas wäre toll, danke.â Auch Rosa hatte in jenem Cafe einst als Kellnerin gearbeitet. So würde sie ihrer Mutter näher sein.
âWer hört denn auf?â, erkundigte sich Carmen.
âNicky.â
Ihre Augen weiteten sich überrascht. âWarum das denn?â
âSie heiratet im August.â
âNa und?â
Javier nippte an seinem Glas. âEs genügt doch, wenn ihr Mann Geld verdient.â
âFalsche Antwort.â Elena warf Lillian einen belustigten Blick zu. Diese versuchte ein Schmunzeln zu verbergen.
âNicky und Enrique regeln das eben so, dass sie sich um Kinder und Haushalt kümmert und er arbeitet.â
âUnd was denkst du darüber?â
Arturo und Antonio betrachteten Javier mit erhöhter Aufmerksamkeit, während Elena und Lillian zugleich an ihrem Glas nippten.
âDas ist doch eine faire Regelung.â
Antonio schüttelte den Kopf und warf Arturo einen viel sagenden Blick zu, worauf ihm Elena einen sanften Stoà mit dem Ellenbogen verpasste.
âFair?â Carmens Augen funkelten voller Ãrger und Ungläubigkeit. Die Zweifel von vorhin schienen für den Moment vergessen, es gab erst mal Dringenderes zu klären. âWeiÃt du eigentlich, wie hart es ist, Kinder zu hüten und auch noch den kompletten Haushalt alleine zu führen?â
Arturo nippte an seinem Glas und begann etwas gelangweilt mit Lillians Haar zu spielen. Er war der Einzige, der Carmens und Javiers Diskussionen nicht als heitere Unterhaltung und Kinoersatz betrachtete. Zudem beschäftigte ihn Lillians Gefühlslage zurzeit sehr. Er sorgte sich um seine Freundin und überlegte, ob es für sie nicht wirklich am besten wäre, Spanish Harlem zumindest für eine zeitlang zu verlassen. Doch wo sollte sie hin? Und was wurde dann aus Ana, deren Hauptlebensinhalt ihre Enkeltochter zu sein schien. Und was wurde dann aus ihm? Du bist ein Egoist, schalt er sich gedanklich. Lillian bedeutete ihm mehr als er selbst und er wusste, dass er sie auch gehen lassen würde, sollte das ihr Wunsch sein. Wenn er auch früher mehr seinem draufgängerischen Vater geglichen hatte, war ihm durch seine Freundin bewusst geworden, wie viel doch von seiner Mutter in ihm steckte. Er würde alles für Lillian tun, selbst wenn das bedeutete, selbst zu leiden. Arturo hatte lange gebraucht, um sich diese starken Gefühle für sie einzugestehen. Wie auch Lillian, hatte er Angst davor gehabt. Er betrachtete die dunklen, langen Haare seiner Freundin lächelnd und bewunderte ein weiteres mal ihre scheinbar vollkommene Schönheit, die nicht nur von ihrem anziehenden ÃuÃeren kam, sondern von innen erstrahlte. Arturo wünschte sich einen Moment mit ihr alleine zu sein, um ihr all dies endlich zu sagen. Um sie in seine Arme zu schlieÃen und nicht mehr los zu lassen.
âWeiÃt du eigentlich, wie hart ein Vollzeitjob sein kann?â, meinte Javier Kopf schüttelnd und betrachtete Carmen Stirn runzelnd.
Lillian gab zwar vor interessiert zuzuhören, dennoch schweifte sie immer wieder ab. Heute war ihr Geburtstag, ihr achtzehnter Geburtstag. Wie würde sie diesen Tag verbringen, wären ihre Eltern noch bei ihr? Sie stellte sich vor, wie sie an einem Tisch gesessen und miteinander gelacht hätten. Rosa, Jorge, Lillian und Ana. Der Gedanke an ihre GroÃmutter versetzte ihr einen Stich. Was verheimlichte sie ihr? Hätte sie zuhause bleiben sollen? Bei Ana? War es richtig gewesen fort zu gehen? Sie versuchte die quälenden Gedanken zu ignorieren und konzentrierte sich auf die Hand ihres Freundes, die sich in ihrem vollen Haar zu verfangen schien. Lillian schloss einen Moment die Augen, um sie sogleich wieder zu öffnen und Elena zu betrachten, welche Javier einen strengen Blick zuwarf.
âKinder sind ein Vierundzwanzigstundenjob!â, Carmen erhob ihre Stimme. âDu meine Güte, ihr seid doch auch sieben Geschwister! Hast du wirklich nie bemerkt, wie gestresst deine Mutter ist?â
âSie fühlt sich lediglich erfüllt durch die Erziehung meiner Geschwister. Sie ist sehr glücklich.â
Elena wandte den Blick ab. Sie wusste, dass Javier Carmen absichtlich provozierte. Er liebte sie, auch wenn sich ihre Grundsatzeinstellungen unterschieden. Sie hatten sich während einer dieser Diskussionen zum ersteren Mal geküsst und wahrscheinlich würde dieser Schlagabtausch sie bis ins hohe Alter begleiten. Javier musste zuvor bemerkt haben, dass etwas mit Carmen nicht stimmte. Je mehr sie versuchte ihre Gefühle zu verbergen, umso durchschaubarer war sie in Wirklichkeit doch. Ein kurzes Lächeln umspielte ihre Lippen. Er liebt dich wirklich. Plötzlich wurde sie von einer Wehmut erfüllt. Die Erinnerung an die Vergangenheit trieb ihr Tränen in die Augen. Als sie Antonios Hand auf ihrem Arm spürte, schüttelte sie diese sanft ab und nippte schnell an ihrem Glas, um sich schnell wieder der Diskussion zuzuwenden. Sie schenkte Javier einen möglichst strengen Blick und meinte: âIch liebe meinen Sohn auch über alles. Dennoch ist es alles andere als gesund, seine Kinder zum einzigen Lebensinhalt zu machen.â Sie biss sich auf die Unterlippe und erkannte erleichtert, dass ihr lediglich Lillian Aufmerksamkeit schenkte. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, um zu signalisieren, dass alles in Ordnung war, worauf Lillian den Blick wieder auf Carmen richtete. Elena seufzte leise. Hatte tatsächlich ausgerechnet sie das gesagt? War es sie nicht viel mehr als Javiers Mutter, deren einziger Lebenssinn ihr Sohn darstellte? Was wäre gewesen, gäbe es Emilio nicht? Was hätte sie getan? Sie verwarf diesen Gedanken schnell wieder und begann das Glas in ihren Händen zu drehen.
âWoher willst du das wissen? Hat dich das jemals wirklich interessiert? Eure Mutter schuftet Tag und Nacht für deine Geschwister, haben sie jemals wirkliche Dankbarkeit gezeigt? Hast du es? Jeder Mensch braucht Anerkennung und manchmal auch etwas Zeit für sich selbst. Hat dir dein Vater eingeredet, dass deine Mutter glücklich ist?â Carmen schüttelte fassungslos den Kopf.
Javiers Stirn war von einer tiefen Falte durchzogen. Er wurde allmählich wütend. Wollte sie es nicht verstehen? âIch bin nicht wie er, wenn du mir das sagen möchtest.â
Sie seufzte. âDu weiÃt, dass ich es nicht so meinte. Du bist natürlich anders als er. Aber dennoch verstehe ich deine Einstellung manchmal nicht.â
âDas musst du auch nicht. Du musst auch weder meinen Vater und meine Mutter noch Nicky und Enrique verstehen. Wichtig ist doch nur, dass wir beide ein glückliches gemeinsames Leben beginnen, eine eigene Familie gründen werden.â Javier strich Carmen sanft durchs Haar. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. âWenn du denkst, dass du einem Vollzeitjob während der Kindeserziehung und Hausarbeit gewachsen bist, werde ich dich nicht daran hindern.â
Ihre Augen funkelten provozierend. âIch dich ebenso nicht.â
Javier zog die rechte Augenbraue hoch und betrachtete Carmen eingehend. âDann wäre wohl alles geklärt.â
Sie wich seinem Blick aus und begann in ihrer Tasche zu wühlen. âGibst du mir den Autoschlüssel? Ich habe meine Hustenbonbons im Handschuhfach vergessen, mein Hals kratzt jedoch aufgrund des Rauchs.â Er zog den Schlüssel aus der Hosentasche und hielt ihn so hoch über ihren Kopf, dass sie den Arm strecken musste, um ihn zu erreichen. Carmen erhob sich Augen rollend und warf den Freunden einen kurzen Blick zu, ehe sie sich vom Tisch entfernte. Es dauerte keine Minute, ehe sich Javier ebenfalls erhob. âEs sind zwar nur wenige Meter bis zum Parkplatz, aber es ist nicht ungefährlich um diese Zeit.â Er verschwand ohne den anderen einen letzten Blick zu schenken.
âIm Auto seines Vaters, unglaublich...â Antonio schüttelte belustigt den Kopf.
âEigentlich sind sie beide ziemlich verrückt...â, meinte Elena. âAber lieben wir sie nicht genau dafür? Wie lange schätzt du, werden sie wohl diesmal brauchen?â
âIch hoffe länger als fünfzehn Minuten, sonst werden wir diese spannenden Unterhaltungen wahrscheinlich nicht wieder genieÃen können.â, antwortete Antonio grinsend.
âUnglaublich, wie anregend ein ungelöstes Problem sein kann. Ich hoffe, sie lernen irgendwann einmal miteinander zu sprechen.â Elena schmunzelte.
âVielleicht unterhalten sie sich ja währenddessen weiter.â Antonio grinste.
Lillian wechselte einen kurzen Blick mit Arturo, welcher plötzlich amüsiert wirkte. âIhr solltet nicht immer so sprechen.â
âAch komm schon, Lilly, deine GroÃmutter ist Kilometer entfernt.â Antonio musterte sie grinsend. âSind dir diese Themen etwa noch immer unangenehm? Du hast noch eindeutig zu wenig getrunken.â
âUnd du zu viel.â, bemerkte Lillian mit einem Blick auf sein erneut geleertes Glas.
âArturo, wir müssen aufpassen, sonst verschwinden die beiden auch gleich gemeinsam.â Elena nippte lachend an ihrem Glas.
Arturo erwiderte ihr Lachen. âNun, dann musst du eben mit mir Vorlieb nehmen.â
Sie musterte ihn kurz. âDamit kann ich leben.â
Antonio warf Elena einen irritierten Blick zu, ehe er sich Kopf schüttelnd an Lillian wandte. âDarf ich dir etwas spendieren? Meinetwegen auch ein Soda.â
âNein, du könntest Elena und mir aber einen Cosmopolitan bringen. Du hast doch Lust, SüÃe?â
âJa, klar.â
âWas ist das denn? Haben die so etwas überhaupt?â
âDu darfst dann kosten. Ja, ich habe ihn hier schon ein paar Mal getrunken.â
Antonio musterte sie belustigt und erhob sich. âDu weiÃt, wie alt du bist?â
âDaran erinnerst du mich des Ãfteren.â
Arturo erhob sich ebenfalls. âIch komme mit.â
âWarum hackt er immer auf meinem Alter herum?â Lillian seufzte genervt, als sich die Männer vom Tisch entfernt hatten.
Elena machte eine abweisende Handbewegung. âEr zieht dich doch nur auf. Du lässt dich oft auch wirklich sehr leicht provozieren.â
âAls Arturo uns einander vorstellte war Antonios erstes Kommentar, ob er sich eh nicht strafbar mache...â
Elena zuckte schmunzelnd mit den Schultern. âVergiss diese Bemerkungen, er meint sie nicht so. Du bist eben die Jüngste der Clique. Sei froh darüber. Das hat auch viele Vorteile.â
Lillian lieà den Blick über die tanzenden Paare und die Stehtische schweifen. Plötzlich hielt sie inne und musterte die junge Frau, welche den Kopf auf den Händen gestützt hatte und die Tischplatte fixierte. Elena folgte Lillians Blick und seufzte leise. Plötzlich sah die Frau auf und direkt in Lillians Augen. Sie wandte sich schnell ab und ging in Richtung Sanitärräume.
„Ich komme gleich wieder.“ Lillian erhob sich.
Elena streifte ihren Arm. „Lass sie, es ist sinnlos.“
Doch ihre Freundin lieà sich nicht davon abhalten und folgte der jungen Frau. Lillian ging durch den vollen Club und blickte sich suchen um. SchlieÃlich kam sie zum Sanitärbereich. Die Frau lehnte an der Wand neben dem Eingang und zog an einer Zigarette.
„Lavinia...“ Lillian musterte sie Stirn runzelnd.
Es war, als würde die Frau mit den glasigen Augen durch sie hindurch sehen. „Ja, wen haben wir denn da?“ Ihre Stimme überschlug sich. „Was machst du denn hier?“ Sie fuhr sich durch ihr zersaustes Haar.
Lillian biss sich unsicher auf die Unterlippe. „Sollen wir an die frische Luft gehen und reden?“
Lavinia lachte. „Worüber denn?“ Ihre Stimme bekam einen spöttischen Unterton. „Ãber die gute, alte Zeit?
„Ja, zum Beispiel.“ Lillian betrachtete Lavinias blasse Haut und die Ringe unter ihren Augen besorgt. „Geht es dir gut?“
Lavinia lachte erneut. „Nicht so gut wie dir, schätze ich, aber es geht.“
„Hör mal, Lavinia. Wieso treffen wir uns nicht wieder mal zu dritt - Elena, du und ich? Wie früher.“
„Wie früher.“, wiederholte Lavinia verächtlich.
Lillian lieà sich nicht irritieren. „Du siehst nicht gut aus. Du bist so abgemagert und...“
Lavinia tunkte die Zigarette Augen rollend aus. „Du bist auch nicht gerade eine Schönheit.“
„Darum geht es nicht. Du ruinierst dich selbst. Ich weiÃ, warum du Tomás triffst und...“
Lavinia fuhr ihr ins Wort. „Seit wann gibst du etwas auf das Gerede anderer? Möchtest du wissen, was über dich gesprochen wird? Es ist nicht so viel besser, glaub mir.“
Lillian versuchte sich zu beherrschen. Sie atmete tief durch. „Lavinia, bitte hör auf damit. Ich helfe dir auch, wenn du möchtest. Ich bin für dich da. Wir waren doch so gute Freundinnen.“ Ihre Stimme bekam einen verzweifelten Unterton.
Lavinia lachte verächtlich. „Die Betonung liegt auf waren. Kümmere dich um deinen eigenen Dreck. Wenn dir mein Lebensstil nicht gefällt, pass einfach auf, dass du ihn niemals selbst leben wirst.“
„Lavinia, es tut mir weh zu sehen, wie du dich zerstörst...“
Lillians Gegenüber machte einen Schritt vorwärts, wobei sie ein wenig wankte. „Dann sieh doch einfach weg, so wie alle anderen.“
„Warum hast du dich von Diego nur so nach unten ziehen lassen? Er schleudert dein ganzes Geld für Drogen raus. Und du erniedrigst dich selbst, um auch daran zu kommen.“
Lavinias Lachen wurde zu einem hysterischen Laut. „Glaubst du, ich weià nicht, wie mein verdammtes Leben aussieht? Glaubst du wirklich, mir gefällt es? Doch es ist zu spät. Game over, Baby.“
„Das ist es nicht. Lavinia, gib dich nicht auf. Du musst kämpfen!“ Lillian ergriff Lavinias dünne Handgelenke.
Diese riss sich von ihr los, wobei sie nach hinten torkelte. Sie lehnte sich an die Wand und fand zu ihrem spöttischen Unterton zurück. „Willst du mir etwa dabei helfen? Wie denn?“ Sie lachte verächtlich. „Das ist mein Leben. Lebe lieber dein eigenes und geh zurück zu deinem Freund. Er vermisst dich gewiss schon.“
„Lavinia...“
„Lass mich endlich in Ruhe. Du nervst mich zunehmend. Nur weil in deinem Leben alles so perfekt läuft, brauchst du nicht die Retterin für andere zu spielen. Ich habe kein Interesse an einer Freundschaft mit dir. Hast du es endlich begriffen?“
Lillians Augen begannen zu tränen. „Was läuft denn in meinem Leben perfekt?“
Lavinia fasste sich an die Brust. „Oh entschuldige, ich habe vergessen, was für ein hartes Leben du führst.“ Sie schüttelte den Kopf. „Eine liebende GroÃmutter, ein toller Freund, ein High School Abschluss. Was ist denn passiert, Baby? Haben sie dich nicht zur Ballkönigin gewählt? Ich bin schockiert.“
„Du bist gemein und unfair, und das weiÃt du.“
„Ach komm schon, reg dich ab, dir ist doch alles nur so zugeflogen.“
Lillian runzelte die Stirn. „Ich musste genügend kämpfen in meinem Leben!“
Lavinia lachte. „Worum denn? Den letzten Kaffee im Starbucks? Ich bin zutiefst beeindruckt.“
„Es hat offenbar wirklich keinen Sinn...“ Lillian seufzte leise.
Sie zuckte zusammen, als die Stimme hinter ihr ertönte. „Ist es nicht schon etwas spät für euch?“
Lavinia rollte mit den Augen und fixierte ihre Zehenspitzen, während sich Lillian zu Ricardo umdrehte. „Der Abend wird ja immer besser.“, meinte sie sarkastisch.
„Was ist das denn für eine BegrüÃung? Immerhin brachte ich dich das letzte Mal nachhause.“
„Willst du dafür etwa einen Orden, Ricardo?“ Lavinia lachte.
Er ignorierte sie und betrachtete Lillian verächtlich. „Du sinkst immer weiter ab.“
Lillian versuchte die aufkeimende Wut zu unterdrücken. Sie zählte gedanklich bis zehn, wie Rosa es ihr einst gelehrt hatte. „Warum verbreitest du diese Gerüchte über uns? Ãber mich wird ohnehin genügend geredet. Deine Mühe war also umsonst.“
„Ich weià nicht, worüber du sprichst.“
Lillian schüttelte den Kopf. „Du warst schon immer so. Ich weià nicht, warum ich mich jemals mit dir einlieÃ...“
Lavinia blickte von Lillian zu Ricardo, der nun näher heran getreten war. „Sag bloÃ, du denkst nicht mehr gerne an unsere gemeinsame Zeit?“
„Das kann ich mir zumeist verkneifen. Ich habe nicht oft Lust mich zu übergeben musst du wissen.“
Ricardo machte einen weiteren Schritt auf sie zu. „Treib es bloà nicht zu weit, du kleines Miststück.“ Er musterte sie eingehend und genoss, dass sie aufgrund der schwindenden körperlichen Distanz zwischen ihnen unsicherer wurde.
Lillian machte einen Schritt zurück und lehnte den Rücken an die kühle Wand. Lavinia strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und musterte Ricardo gleichgültig. „Du bist erbärmlicher denn je.“
Lillian schenkte ihr einen kurzen, irritierten Blick.
„Das sagst ausgerechnet du?“ Ricardo lachte und musterte Lavinia verächtlich. „Du machst für gewisse Dinge doch alles.“
Lavinia stemmte die Arme in die Hüften. „Leg dich bloà nicht mit mir an. Ich weià Dinge, die dir äuÃerst schaden könnten. Wenn du uns nicht vorbei und Lillian nicht künftig in Ruhe lässt, könnte es sein, dass mir diese eines Tages bei den falschen Leuten herausrutschen.“
„Denkst du, ich habe Angst vor dir?“, fragte er erst höhnisch, lieà die beiden aber schlieÃlich vorbei. Lillian warf keinen Blick zurück als sie mit Lavinia wieder den Hauptraum betrat.
„Nur aus Neugierde, aber was weiÃt du denn über ihn?“
Lavinia musterte Lillian. Für einen Moment schien es, als würde ein Lächeln ihre Lippen umspielen. „Im Grunde gar nichts, auÃer dass er noch immer in dieser Gang ist. Alles andere sind bloà Gerüchte. Aber du kennst mich ja, ich beherrschte es schon früher den Männern Angst einzujagen.“
Lillian schmunzelte. „Allerdings. Lavinia...“ Sie hielt inne, als Diego plötzlich hinter der jungen Frau erschien und die Arme um ihre Hüften legte. „Ich habe dich vermisst, Vinny...“
Lavinias Gesichtsausdruck verhärtete sich wieder. Ihre Augen wurden erneut ausdruckslos. „Hast du nicht.“, antwortete sie und schenkte Lillian einen letzten Blick. „Ich wünsche dir ein schönes Leben, Lillian. Vergeude es nicht.“ Ehe die junge Frau antworten konnte, hing sich Lavinia bei Diego ein und verschwand mit ihm durch die Menschenmenge.
Lillian blickte ihr seufzend nach und erinnerte sich an das fröhliche Mädchen von einst, welches andere immer zum Lachen gebracht hatte. Lavinia, so wunderschön und unschuldig. Lillians Augen begannen zu tränen. Lavinia war nur mehr ein Schatten ihrer selbst und offenbar hatte sie sich damit abgefunden. Trotz des positiven Moments vor wenigen Minuten, welcher Lillian kurz dazu gebracht hatte, Hoffnung zu schöpfen. Ihre Beine schienen schwer, als sie langsam zurück zu ihrem Tisch ging. Die anderen unterhielten sich gerade, bemerkten sie nicht sofort. Auch Carmen und Javier waren wieder da, offenbar deutlich besser gelaunt als zuvor. Lillian zitterte als sie sich an Arturo schmiegte. Er bemerkte es und zog sie sogleich fester an sich. Die Freunde musterten sie besorgt.
„Alles in Ordnung?“, fragte Carmen.
„Ich sagte dir doch, es wäre sinnlos! Wann begreifst du es nur endlich?“ Elena schüttelte den Kopf.
„Du musst akzeptieren, dass Lavinia sich nicht helfen lassen möchte.“, meinte Arturo leise.
„Das kann ich nicht. Könnt ihr das etwa?“ Sie warf Elena einen vorwurfsvollen Blick zu. „Sie war eine von uns! WeiÃt du denn nicht mehr? Unsere regelmäÃigen Treffen in der Eisdiele und...“
Die Freundin fuhr ihr ins Wort. „Das hat keinen Sinn, Lillian! Vorbei ist vorbei. Wir wollten ihr schon öfters helfen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Lavinia weiÃ, dass wir für sie da wären, aber sie möchte unsere Hilfe gar nicht. Du kannst sie nicht dazu zwingen.“
Lillian versuchte die Tränen zu unterdrücken. Sie lehnte sich an Arturos Schulter und atmete tief durch. Ihre Mutter hätte doch auch nicht so einfach aufgegeben?
„Das ist keine gute Welt da drauÃen, Lillian.“ Carmen mühte sich um ein Lächeln. „Wir müssen das Beste aus allem machen. Ich habe Lavinia nie besonders gut gekannt, verstehe aber deine Ãngste. Dennoch Lillian, es bringt weder dir noch ihr etwas, wenn du dich fertig machst. Sie muss erst selbst aus diesem Elend wollen, dann kannst du ihr womöglich helfen, doch nicht zuvor...“
Antonio schenkte Lillian einen mitfühlenden Blick. „Du hast immer alles für sie getan, um ihr zu helfen. Im tiefsten Inneren ist sie dir gewiss dankbar dafür.“
Lillian schüttelte den Kopf. „Wir dürfen das nicht einfach so hinnehmen! Mein Vater sagte immer, dass wir für unsere Mitmenschen eine gewisse Verantwortung tragen.“
„Damit hatte er natürlich Recht. Doch Menschen tragen auch für sich selbst Verantwortung.“, erwiderte Elena sanft und drückte Lillians Hand.
Diese seufzte leise und reagierte beinahe dankbar, als Javier schlieÃlich das Thema wechselte und von dem Cafe erzählte, in welchem seine Cousine arbeitete. In den darauf folgenden beiden Stunden gelang es den Freunden schlieÃlich Lillian ein wenig abzulenken. Es war weder der Abend, den sie vor mehr als zehn Jahren erwartet, noch der, den sie noch morgens erhofft hatte. Doch wahrscheinlich waren es die besten Stunden, welche sie sich in dieser schwierigen Zeit erhoffen durfte. So sehr sie die Begegnung mit Lavinia auch aufgewühlt hatte, Lillian war dadurch auch bewusst geworden, wie wichtig es war, das Leben anzunehmen. Zu kämpfen. Alles würde kommen, wie es kommen musste und sie würde sich der Zukunft stellen. Das war ihre einzige Wahl, das wusste sie.
Lillian gab auf der Heimfahrt vor schon sehr müde zu sein, um den Gespräch Arturos und Elenas nicht folgen zu müssen. Es war lockerer Smalltalk, an welchem sie nicht teilnehmen wollte. Ihre Augen folgten den Lichtern der Leuchtreklamen und StraÃelaternen. Die leise Radiomusik begann Lillian allmählich in ihr Innerstes zu führen. Du musst immer das Beste aus deinem Leben machen., war auch einer der Sätze ihrer Eltern gewesen. Lillians Augen begannen zu tränen, sie konzentrierte sich auf ihre Hände, welche auf ihren Oberschenkeln ruhten, und atmete tief durch. Mamá, Papá, mache ich es richtig? Ist das der Weg, den ihr euch für mich gewünscht habt? Sie begann zu zittern, als ihr bewusst wurde, was zu tun ist. „Halte an. Halte hier bitte an.“
Arturo und Elena musterten sie irritiert. „Lillian, es ist mitten in der Nacht...“
Die Angesprochene antwortete nur mit einem irritierten Kopfschütteln, worauf er schlieÃlich das Auto parkte. Lillian schnallte sich ab und wollte schon aussteigen, als Arturo sie sanft am Arm festhielt. „Wir kommen mit. Es ist zu gefährlich. Man weià nie, was für Menschen sich hier herumtreiben.“
„Nein.“ Lillian schüttelte den Kopf und stieg aus dem Auto. „Das muss ich alleine machen.“ Kaum hatte sie jedoch das Tor zum Friedhof durchschritten folgten ihr Arturo und Elena unbemerkt.
Lillian kniete sich auf die vertrocknete Wiese vor dem Grab und strich zärtlich über die Blumen, welche Ana und sie regelmäÃig pflegten. „Hallo Mamá, hallo Papá. Es tut mir leid, dass ich euch in den letzten Wochen so selten besucht habe.“ Ihre flüsternde Stimme wurde von dem an Stärke gewinnenden Wind verschluckt. Sie zog die dünne Weste enger um ihren zitternden Körper. Es war dunkel, lediglich ein paar kleine Laternen verliehen der Ruhestätte etwas Licht. Eine einzelne Träne tropfte auf die Blumen. „Ich vermisse euch. Es tut so weh. Ich habe Angst. Ich weià nicht, wie es weiter gehen soll. Heute ist mein achtzehnter Geburtstag und ich fühle mich verlorener denn je. Doch ich weiÃ, ich muss weitermachen. Ich muss kämpfen. Das ist in eurem Sinne. Ihr wolltet es nicht, dass ich einfach aufgebe, auch wenn mir manchmal danach zumute ist. Ich denke an euch, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Ihr seid in meinem Herzen und werdet es immer sein.“ Lillian verwischte ihre Tränen. „Mamá, ich denke jeden Tag daran, wie es war mit dir Geschichten zu lesen, spazieren zu gehen, Cafes zu besuchen. Wie du mir vorgesungen hast. Du hast so schön gesungen. Und Papá, ich werde niemals vergessen, wie du mir als kleines Mädchen gelehrt hast zu tanzen. Ich habe so viel von dir gelernt. Fahrradfahren, Tischtennis, Baseball, schwimmen. Mir kochen beizubringen hast allerdings auch du aufgegeben.
Ich denke gerne an unserer Picknicke, unsere Familienfeiern mit GroÃmama, unsere Fernsehabende. Ich wünschte so sehr, dass ihr heute bei mir gewesen wärt, obwohl ich natürlich weiÃ, dass ihr das auf eine gewisse Weise ward und immer sein werdet.
Ich spüre, dass ich vor einem neuen, entscheidenden Lebensabschnitt stehe. Ich weià nicht, ob mir das mehr Angst oder Hoffnung bereiten soll, beides ist momentan gleichermaÃen der Fall. Doch ich verspreche euch, ich werde niemals aufgeben. Ihr habt mich dazu erzogen mich meinen Problemen zu stellen und das werde ich auch tun, das verspreche ich euch. Es tut mir leid, dass ich euch in den letzten Wochen so enttäuschte. Ich wusste nicht, wohin ich gehöre. Ich bin eure Tochter, doch da ist noch etwas anderes in mir, das ich erst ergründen muss. Ich verstehe so vieles noch nicht, möchte es jedoch. Ich werde nach meinen Wurzeln suchen, auch wenn ich nicht weiÃ, ob mir dies wirklich helfen wird, um zu meinem Herzen zu finden. Doch ich spüre, dass es der Weg ist, den ich gehen muss.“ Ein leichtes Lächeln umspielte Lillians Lippen. „Ich liebe euch, von ganzem Herzen. Ihr bedeutet mir alles und daran wird sich niemals etwas ändern.“ Sie erhob sich langsam und ging den schmalen Pfad zum Tor entlang. Ihre Augen begannen erneut zu tränen, als sie Arturo und Elena am Gitter gelehnt stehen sah. Die beiden musterten sie mit besorgter Miene. Lillian mühte sich um ein Lächeln und lief auf sie zu, um sie in die Arme zu schlieÃen. „Danke.“, flüsterte sie.
„Alles okay?“ Elena betrachtete sie Stirn runzelnd.
Lillian zuckte mit den Schultern. „Nein, das wäre zu viel verlangt. Aber ich weiÃ, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Ich werde endlich meinen Weg gehen, es hat keinen Sinn nur zurück zu blicken. Manchmal ist es noch wichtiger nach vorne zu sehen. Meine Vergangenheit ist nur ein Teil von mir. Ich darf sie nicht länger der einzige Teil sein lassen.“ Sie hängte sich bei Arturo und Elena ein und warf nur einen kurzen Blick zurück zum Grab ihrer Eltern, ehe sie den Friedhof verlieÃen. Danke, Mamá, danke, Papá. Ich glaube, ich habe es endlich verstanden.
Es vergingen drei Wochen ehe Lillian bewusst werden sollte, wie sehr sich ihr Leben tatsächlich verändern würde.
Es war fünf Uhr abends als sie gemeinsam mit Arturo von der Arbeit nachhause kam und bereits von Ana erwartet wurden. Ihre GroÃmutter hatte, wie schon länger versprochen, Arturo zum Essen eingeladen. Die Beziehung zwischen der älteren Frau und dem jungen Mann war zwar noch immer etwas angespannt, doch sie gaben sich beide Lillian wegen groÃe Mühe.
„Wie war es denn heute in der Arbeit?“, erkundigte sich Ana, als die beiden ihre Schuhe auszogen.
Lillian lächelte. „Toll, ich wurde mit der Umschlichtung der Regale fertig. Das heiÃt nun, dass es für mich nichts mehr zu tun gibt und ich übermorgen ohne schlechtem Gewissen anfangen kann im Cafe zu arbeiten.“ Sie setzte sich auf einen der beiden Stühle, welchen Ana zum Tisch gestellt hatte. Die ältere Frau saà ihr gegenüber, auf dem Sofa.
Arturo setzte sich ebenfalls und schenkte den Frauen und schlieÃlich sich selbst etwas Wasser in die Gläser. „Du hättest in keinem Fall ein schlechtes Gewissen haben müssen. Du warst eine sehr wichtige und fleiÃige Aushilfe. Sie können sehr stolz auf sie sein, Señora Vasquez.“
Ana nickte. „Das bin ich. Du wirst auch gewiss deine Arbeit im Cafe sehr gut machen. Du bist wie deine Mutter.“
Lillian lächelte leicht. „Nein, an Mamá werde ich wohl nie herankommen, aber ich gebe mein Bestes.
Ana wandte sich lächelnd an Arturo. „Rosa war immer sehr ehrgeizig, egal, was sie tat. Ob sie nun für die Schule lernte, servierte, kochte, aufwusch oder den Müll hinausbrachte. Egal wobei, sie gab stets ihr Bestes. Wenn ich mir dagegen so manche hochmütige Mädchen anschaue, welche sich zu gut für richtige Arbeit sind...“
Arturo nickte. „Ich halte von diesen Mädchen ebenso wenig.“
Ana lächelte zufrieden und bat Lillian ihnen Suppe in die Schüsseln zu füllen.
„Das duftet köstlich, GroÃmama.“, lobte Lillian, während sie der Aufforderung nachging.
„Einfach wunderbar.“, pflichtete ihr Arturo bei.
„Das ist Kartoffelcremesuppe nach dem Rezept meiner GroÃmutter, möge sie in Frieden ruhen.“
Arturo probierte einen Löffel und meinte anerkennend: „Sie verstand ihr Handwerk.“
„Möchtest du das Rezept?“
„Das wäre sehr nett von Ihnen, danke.“
Lillian verfolgte die Szene Stirn runzelnd und bat innerlich, dass diese Harmonie zumindest bis zum Dessert aufrechterhalten würde.
„Wenn ihr erst mal verheiratet seid, wirst ohnehin du kochen müssen, Lillian ist da leider eher untalentiert.“
„GroÃmama!“, Lillian schüttelte empört den Kopf.
„Was denn? Denkst du etwa, das weià er noch nicht?“
„Nun, sie bereitet leckere Salate zu.“, verteidigte Arturo seine Freundin.
„Ihr seid keine Hasen. Irgendwann werdet ihr auch etwas anderes essen müssen.“
„Und wie war dein Tag, GroÃmama?“, wechselte Lillian schnell das Thema.
„Wie der Tag einer alten Frau nun mal so abläuft. Ich ging einkaufen, erledigte den Wohnungsputz und kochte.“ Ana wich Lillians Blick aus und rieb sich die Hände an ihrer Serviette ab. „Nun gut.“ Sie erhob sich langsam und stellte die leeren Schüsseln neben das Waschbecken, während Lillian und Arturo Quesadillas und Salat auf den Tisch platzierten.
Ana beobachtete lächelnd, wie die beiden schlieÃlich ihre Teller füllten, ehe sie schlieÃlich selbst zugriff. „Lasst es euch schmecken...“ Plötzlich hielt sie inne. „Lillian, da fällt mir ein, heute ist ein Umschlag für dich gekommen.“ Sie zog ihn aus der Rocktasche. „Entschuldige, ich habe beinahe darauf vergessen.“
Lillian nahm ihn Stirn runzelnd entgegen. Ihre Hände begannen zu zittern, als sie den Absender erblickte.
„Von wem ist er denn? Ich war gerade in Eile, als mir der Briefträger entgegenkam und steckte ihn nur schnell ein, ohne ihn näher betrachtet zu haben.“
Lillian schüttelte ungläubig den Kopf und drehte das Kuvert in ihren Händen. „Er ist von der NYU...wahrscheinlich die Absage...reichlich spät, aber immerhin melden sie sich.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich sollte ihn gleich wegwerfen.“
„Warum öffnest du nicht erst das Kuvert? Was, wenn es keine Absage ist?“ Ana musterte sie ungläubig.
Arturo nickte. „Du rechnest doch ohnehin mit einer Absage, also erlebst du höchstens eine positive Ãberraschung. Sonst fragst du dich womöglich ewig, was sie dir geschrieben hätten.“
Lillian atmete tief durch und versuchte das flaue Gefühl im Magen zu ignorieren. Sie nahm ein Messer und schlitzte den Umschlag sorgfältig auf. Arturo und Ana beobachteten sie konzentriert. Lillian räusperte sich leise und fuhr mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Sie zog drei sorgsam zusammengefaltete Blätter heraus und faltete sie zögernd auseinander. Die Buchstaben auf dem weiÃen Papier mit dem Stempel der Universität begannen sich erst allmählich zu Wörtern zusammen zu fügen. Ihre Augen begannen sich zu weiten.
Arturo und Ana tauschten einen ungeduldigen Blick, ehe sich die ältere Frau an ihre Enkeltochter wandte. „Was schreiben sie denn nun? Ist es eine Zu- oder Absage?“
Lillian schüttelte den Kopf und legte das Schreiben irritiert neben ihren Teller. „Weder noch.“ Sie starrte auf ihr leeres Glas. „Das ist vollkommen unmöglich.“
Arturo seufzte leise und griff nach dem Papier. Er überflog es rasch und warf Lillian einen irritierten Blick zu, ehe er ihr schlieÃlich ein Lächeln schenkte und sie zärtlich küsste. „Sieht so aus, als dürften Carla und Yolanda sich bald noch mehr ärgern...“
Ana beobachtete ihn unruhig. „Was steht da? Wollt ihr beide mich ärgern?“
Lillians Augen begannen zu tränen, ehe sie hysterisch lachte. „Das...das ist...sie haben mir die ersten Infos geschickt...für Studienanfänger des kommendem Wintersemesters...weitere, sowie meine Ausweiskarte, sollen in den nächsten Wochen folgen...“ Sie schüttelte den Kopf. „Das muss ein Irrtum sein, ganz bestimmt.“
Ana betrachtete sie einen Moment irritiert, ehe ihr Gesicht von einem strahlenden Lächelnd überzogen wurde. „Das ist doch kein Irrtum, so eine angesehene Universität irrt doch nicht! Lillian, du darfst studieren! Sie wollen meine kluge Enkeltochter!“ Ana erhob sich hektisch. „Wir müssen doch noch irgendwo einen Wein haben...zur Feier des Tages!“
„GroÃmama! Warte.“ Lillian schüttelte den Kopf. Sie tauschte einen kurzen Blick mit Arturo, welcher nachdenklich auf das Schreiben blickte. „Ich habe doch noch gar keinen Bescheid bekommen, dass mein Antrag auf ein Stipendium angenommen wurde...“
„Das Postamt ist nicht unfehlbar, Lillian! Du wirst studieren! Nun freu dich doch endlich!“
„Aber...“ Lillian seufzte unsicher. „...da stimmt etwas nicht. Da kann doch etwas nicht stimmen...“
Arturo reichte ihr den ersten der drei Papierbögen. „Da steht eine Nummer. Du kannst bist sechs Uhr anrufen.“
Lillian runzelte unsicher die Stirn und warf einen Blick auf die Uhr. „Noch zwanzig Minuten...“
Arturo erhob sich und schloss sie in die Arme. „Na komm schon. Danach hast du die Gewissheit. Vielleicht ist der Bescheid wirklich verloren gegangen oder vergessen worden. Auf der NYU arbeiten schlieÃlich auch nur Menschen.“
„Ich habe Angst...“ Lillian begann erneut zu zittern, als sie sich langsam erhob und zum Telefon ging. Sie vertippte sich dreimal und musste wieder von vorne beginnen. Lillian glaubte, ihr Herz bliebe stehen, als nach dem vierten Läuten die Stimme einer jungen Frau erklang. „Entschuldigen Sie bitte die späte Störung...“, begann Lillian unsicher ihr Problem zu schildern, wobei sich ihre Stimme mehrmals überschlug. Ihr Magen wurde von einer Ãbelkeit erfasst, als die Frau begann etwas auf der Tastatur zu tippen. Lillian zählte die Anschläge gedanklich mit. Ihr Mund wurde trocken, als sie glaubte ein leichtes Seufzen von der anderen Leitung vernommen zu haben. „Ich kann Ihren Namen leider nicht bei unseren Stipendiaten finden...“ Lillian vernahm erneut das Tippen auf einer Tastatur. Sie presste den Hörer des Telefons fester an ihr Ohr. „Lillian Marquez...nein...warten Sie...doch, hier sind Sie.“
Lillian biss sich so fest in die Unterlippe, dass diese zu bluten begann.
„Miss Marquez, Sie haben offenbar unseren Bescheid tatsächlich nicht erhalten. Er hätte eigentlich bereits vor vierzehn Tagen zugestellt werden sollen. So etwas kann passieren, bei uns ist es zurzeit sehr chaotisch...
Ihr Bescheid wird morgen Mittag versendet. Sie sollten ihn bis Freitag erhalten. Wenn nicht, melden Sie sich bitte erneut.“
Lillians Herzschlag setzte einen Moment aus. Sie glaubte nicht richtig richtig gehört zu haben.
„Allerdings sind Sie nicht als Stipendiatin eingetragen, ihre Gebühren wurden vollständig bezahlt...“