06.07.2013, 13:59
sooo meine lieben. das warten hat ein ende. und einen neuen anfang. und dazwischen ein neues kapitel.
viel spaÃ.
Zweiundvierzig
Sie hatte die ganze Fahrt hierher über nicht mit ihm gesprochen, kein einziges Wort. Gezappelt hatte sie, mehr Lärm gemacht als das Klappermobil, aber gesagt hatte sie nichts. Jetzt hielt sie den Umschlag unter seine Nase, nahm seine Hand und schloss seine Finger um das raue, weinrote Briefpapier.
„Nimm du.“, sagte ihr Blick. Ihr Mund sagte nichts.
Auch den zweiten Briefumschlag fanden sie, wie versprochen, unter einer Bank am Krankenhaus. Das Papier knisterte zwischen Simons Fingern als Anne es in seine Hände schob.
Er betrachtete die Umschläge, als könnten sie ihm ihren Inhalt verraten. Eine Weile lang war er gefangen von dem Wissen, das er in der Hand hielt. Von all den Möglichkeiten einer Wahrheit, die ein pflichtbewusster Polizist vor rund 20 Jahren vertuscht hatte.
Anne setzte sich auf die Bank, unter der gerade noch der Umschlag geklebt hatte.
„Simon?“, krächzte sie leise. Sie räusperte sich und setzte noch ein Mal an.
„Simon, was jetzt?“
Er sah von dem Geheimnis in seiner Hand auf und setzte sich neben sie.
„Ich weià nicht, willst du sie sofort aufmachen?“
Sie lächelte traurig, streckte eine Hand aus und fühlte über eine Ecke des oberen Umschlages, dann zog sie die Hand wieder zurück.
„Vielleicht will ich es gar nicht wissen.“, murmelte sie.
Sie streckte die Hand erneut aus, fühlte über die Ecke, zog die Hand zurück.
„Ich bin sauer auf dich, das weiÃt du, oder? Du hast mir richtig Angst gemacht.“, flüsterte sie dabei.
Simon nickte und wollte etwas antworten, aber sie sprach leise weiter.
„Und ich bin so stolz auf dich. Und...“
Sie brach ab und sagte nichts mehr. Es war kurz still, während sie die Hand hob, sie auf die beiden Briefe in seiner Hand legte und liegen lieÃ. Es fühlte sich an, als würde nicht nur ihre Hand, sondern ihr ganzes Gewicht darauf lasten.
„Und was?“
„Und ich glaube nicht, dass jemals irgendwer etwas schöneres und gruseligeres und wichtigeres für mich tun wird.“
Sie lächelte schüchtern.
„Ja, ich weiÃ, das passt nicht so ganz zusammen mit dem sauer sein, aber...“
„Ich versteh‘ schon.“
Er grinste schief. Gar nichts verstand er, aber sie anscheinend auch nicht.
„Simon?“
„Ja?“
„Kannst du sie aufmachen?“
Der erste Umschlag war dünn. Simon trennte ihn so behutsam er konnte auf. Während er mit seinen Fingern zwischen das zusammengeklebte Papier glitt, fühlte er, wie sie näher an ihn heran rutschte, bis sie fast auf seinem Schoà saÃ. Er konzentrierte sich auf das ReiÃen des Papiers, konnte seinen rechten Arm jedoch kaum bewegen, weil sie sich mit einer solchen Kraft gegen ihn schob, dass es Gewalt gebraucht hätte, um sich Freiheit zu verschaffen. Noch immer trennte er Papier von Papier, es schien ewig zu dauern und jedes Mal, wenn das Papier in seinen kalten Händen einen Millimeter zu weit riss, zuckte er erschrocken zusammen.
Unwillkürlich musste er an die Risse in der Decke seines Heimzimmers denken. Wie sie sie mit ihren Fingern verfolgt hatte, wie sie darüber philosophiert hatten und wie sie immer eine Hand breit Platz zwischen sich gelassen hatten weil sie beide ihren Raum brauchten. Für heute hatte sie die Spielregeln geändert, und er wusste nicht, ob...
Der letzte Rest Kleber gab nach. Im Briefumschlag lag ein zusammengefalteter, farblich passender Briefbogen, durch den Tinte in einer geschwungenen Handschrift schimmerte.
Sie starrten beide darauf. Simon hob umständlich den rechten Arm und legte ihn auf die Rückenlehne der Bank, was nicht zu mehr Freiraum führte, sondern nur dazu, dass Anne noch näher an ihn heran rutschte.
„Und jetzt?“, fragte er leise.
„Kannst du es mir vorlesen?“
So lange wie sie sich kannten hatte Anne oft komische Ideen gehabt, merkwürdige sogar. Aber nie war ihr Verhalten so wirr gewesen, so durcheinander, so... sinnlos. Vorlesen? Sie würde den Brief selbst lesen können, so nah wie sie saÃ. Simon fragte sich, was sie bezweckte – wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht.
Als er das Papier aus dem Umschlag nahm, zitterten auch seine Finger. Er faltete es auseinander und las.
Liebe Anne,
du kennst mich nicht. Du weiÃt nicht wer ich bin, aber ich kenne dich. Aus Geschichten, aus Gedichten, manchmal habe ich sogar von dir geträumt. Dass Leon sich so für dich interessierte und dir unbedingt die Wahrheit zukommen lassen wollte, war eine glückliche Fügung für mich, denn so hat er mich gefunden. Es war sein letzter Wunsch, dir zu helfen. Ich war zunächst nicht sicher, ob ich es wirklich verantworten kann, dir deine Geschichte zu erzählen, doch über die Jahre hatte ich immer wieder gemerkt, wie du auf deiner Suche immer engere Kreise um die Lösung zogst und es doch nie verstanden hast. Dein Wille, die Wahrheit zu finden, und Leons Hartnäckigkeit überzeugten mich schlieÃlich.
Du wirst dich fragen, wer ich bin, wieso ich die Wahrheit kenne und wie sie so lange verborgen bleiben konnte.
Die Antwort ist einfacher als du denkst. Wie alle Angestellten der Klinik in der ich arbeite, unterliege ich einer Schweigepflicht. Ich bin Krankenschwester und in den letzten 15 Jahren war deine Mutter meine liebste Patientin.
„Zeig!“ Sie riss ihm den Zettel aus der Hand und fuhr mit den Fingern über das Papier. Da stand es, Schwarz auf Weià – oder besser, Blau auf Rot – aber wie sollte das möglich sein?
Sie krallte die Finger in das Papier.
Ich weiÃ, dass dir gesagt wurde, deine Mutter sei bei dem Hausbrand erstickt. Die Wahrheit ist, sie wäre fast erstickt. Sie konnte rechtzeitig gerettet werden, doch der Kontakt mit dir wurde verboten. Sie vermisst dich jeden Tag.
Deine Mutter lebt.
Sie knüllte den Brief in einer Hand zusammen und stand auf, ging einige Schritte, bevor ihre Beine nachgaben. Simon starrte sie nur an.
„Alles in Ordnung, junge Frau?“
Eine Gruppe älterer Damen kam heran gewackelt und die kleinste unter ihnen bückte sich in unendlich langsamem Tempo zu Anne hinunter.
„Belästigt der Herr Sie?“
Anne sah sie an.
„Sie könnten Mayers Frau sein...“
„Wie bitte? Kind, du siehst ganz blass aus. Brauchst du einen Arzt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein... Simon?“
Er stand auf, wie automatisch, schob sich an der gebückten Dame vorbei und half seiner besten Freundin wieder auf die Beine. Die alten Damen sahen mehr als irritiert aus, als Anne sich an ihn lehnte und die Augen schloss.
„Wir kommen klar, vielen Dank.“, sagte er langsam und bemühte sich, harmlos zu lächeln.
„Ein schwacher Kreislauf.“, fügte er hinzu.
Die Frau tauschte einen Blick mit ihrer dünnen, groÃen Freundin, die sich auf einen Stock stützte, und der zierlichen Dame, die sich in einem Anfall von Jugendlichkeit die Haare lila gefärbt hatte.
„Wir sind direkt dort drüben.“, erklärte letztere jetzt drohend und Simon trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Anne kippte einfach mit. Er hielt sie fest und nickte der Dame zu.
„Das ist gut, danke.“, antwortete er brav und zog Anne zurück zur Bank.
Er wartete einige Minuten, bevor er sie ansprach, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, die sie da halb auf ihm lag und einfach nichts tat. Eine Ewigkeit, in der er nichts verstand, in der diese neue Wahrheit über ihnen schwebte und alles zu durchdringen schien. Alles war neu, doch nichts änderte sich, denn niemand begriff die ungeheuerliche Information, die sie soeben erhalten hatten.
„Alles in Ordung?“
„Meine Mutter lebt.“
Da war es wieder, das Schweigen zwischen ihnen. Aber diese Art von Schweigen war unangenehm. Es war ein hilfloses Schweigen. Keines, weil man keine Worte brauchte um einander zu verstehen, sondern weil man keine finden konnte.
Noch immer hielt sie den Brief fest umklammert, las nicht weiter und verschmierte die Tinte mit ihren schwitzenden Händen.
Simon fragte sich wann sie bereit sein würde den zweiten Brief zu öffnen. Ob er selbst bereit war? Es war ganz und gar nicht so, wie Simon sich das alles vorgestellt hatte. Sie waren keine Detektive oder Agenten aus dem Fernsehen, die einfach immer weiter gegen die Zeit rannten, Information um Information verarbeiteten und in 40 Minuten auf dem Bildschirm Geheimnisse auseinandernahmen. Sie waren mitten drin und sie konnten nicht weiter in diesen Riesenschritten.
Anne war aufgestanden und lief hin und her, murmelte vor sich hin. Bald würde sie in eine fremde Sprache verfallen oder eine Superkraft offenbaren, fürchtete Simon, aber es passierte nichts. Da war nur ein kleines Mädchen, das verwirrt von A nach B tigerte und er, Simon, der hier festsaà mit noch mehr in der Hand was dem nervösen Wrack, das heute Morgen noch seine beste Freundin gewesen war, vermutlich den Rest geben würde.
Langsam fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Seit er von Mayer wusste, überlegte er, ob es wirklich klug war, dass Anne ihre Vergangenheit mit aller Kraft verfolgte. Doch geholfen hatte er ihr trotzdem, alle Bedenken ignoriert, alle Ãngste zerstreut, vielleicht in der geheimen Hoffnung, dass sie die Wahrheit sowieso niemals finden würden.
Und langsam, kalt und beklemmend, wie das Wasser, das er so fürchtete, breitete sich ein Verdacht in ihm aus. Was war, wenn er am Ende doch gegen Leon verloren hatte?
Jahre voller Therapie hatte es gebraucht bis Simon sich nicht mehr als Unglücksbringer sah. Jahre in denen ihm eingetrichtert werden musste, dass alles nicht seine Schuld gewesen war. Und doch – am Ende konnte es gut sein, dass Leon Recht behalten würde: Es war seine Schuld, dass Anne jetzt die Wahrheit herausfand, vor der er sie eigentlich hätte schützen müssen, nur weil er Leon zeigen wollte, dass er kein kleiner Schwächling mehr war.
Am Ende war er nur ein selbstsüchtiger Versager, genau wie sein Vater, und Anne würde...
„Die Frau ist doch irre.“, unterbrach sie seine Gedanken plötzlich und lieà sich neben ihn auf die Bank plumpsen.
Ãberrascht hob er den Kopf. War sie plötzlich aus ihrer Trance erwacht?
„Wie meinst du das?“, fragte er vorsichtig nach, weil ihm nichts Besseres einfiel.
„Hier steht, dass sie in Leon verliebt ist!“
Sie wedelte mit dem Brief vor seiner Nase herum, den sie offensichtlich zu Ende gelesen hatte.
„IN LEON! Ich möchte dir ja nicht zu nahe treten aber dein Vater ist das widerlichste, unsympathischste und abartigste... Viech das mir je begegnet ist, und letzten Sommer hatte ich Kakerlaken in der Wohnung. Und wegen sowas rennt die durch die Stadt und klebt Umschläge mit den Geheimnissen meiner Familie unter Mülleimer - ist die bescheuert? Für so einen schmuggelt die Morphin? Hat die nichts anderes zu tun? Wieso sammelt die keine toten Motten zum Zeitvertreib? Oder sprengt irgendwas, wie normale Irre?!“
Die Worte strömten über ihn hinweg und sickerten in ihm ein, doch er brauchte zu lange, um sie zu verstehen, und konnte einfach nichts Sinnvolles antworten, weil sie immer nur weiter redete, wild mit den Händen fuchtelte und ihn dabei ständig schlug, was sie offenbar entweder nicht mitbekam oder nicht interessierte.
„Annie, Stopp. Stopp!“, rief er schlieÃlich, mitten in einen Katalog von „sinnvolleren Beschäftigungen für untervögelte Knastigroupies“, den sie ohne Punkt und Komma über ihn ausschüttete, als hätte sie das Schweigen der letzten Stunde eigens dafür genutzt, um sich das alles auszudenken.
Sie hielt inne und sah ihn überrascht an.
„Was? Findest du das nicht irre?“
Er lächelte und wusste nicht genau warum. Diese Situation war so verrückt, so unglaublich und verstörend, und trotzdem musste er fast lachen. Recht hatte sie ja.
„Doch natürlich...“, fing er an und nickte.
„Aber... das ist doch nicht das, was dich an ihrer Geschichte eigentlich umgehauen hat, Annie. Deine Mutter...“
Sie nahm ihm den zweiten Umschlag aus der Hand.
„Ja.“, sagte sie, „Ja, meine Mutter. Glaubst du, das ist wahr?“
„Ich weià nicht?“
„Ich glaube schon. Leon wusste meinen Spitznamen, weiÃt du? Den von meinen Eltern. Den hatte ich selbst vergessen.“
„Käferchen?“
Er sah zu, wie die Tränen in ihren Augen hochstiegen, als ob es ihr Gewissheit verschaffte, das Wort noch einmal zu hören.
„Willst du den zweiten Umschlag öffnen? Ich kann dir den Brief vorlesen.“
„Ich will nicht mehr. Ich kann jetzt nich noch einen... Ich weià nicht was ich will.“
„Also bleiben wir einfach hier sitzen? Oder willst du nach hause?“
Es war kurz still. Wenn man den wilden Gedankenwirrwar in ihrem Kopf „kurz nachdenken“ nennen konnte, dann tat sie das gerade. Aber wahrscheinlich wäre das eine absolut falsche Wortwahl gewesen.
Simon beobachtete, wie hinter ihrer Stirn die Gedanken rasten. Fast konnte er ihre Angst und ihren Schmerz fühlen, das Unwissen und das Wissen und die Last der Wahrheit, die plötzlich nicht mehr so verlockend schien sondern furchteinflöÃend und gefährlich.
Er konnte sehen, wie sich die Leere in ihren Augen ausbreitete, bis nur noch ein groÃes Nichts da war.
„Jetzt hör doch endlich mal auf, mich zu fragen, was ich will.“, flüsterte sie schlieÃlich.
Wenn er ehrlich war, hätte er es wissen müssen. Aber als sie ihn küsste, die Hände in seinen Haaren vergrub und sich an ihn presste, sodass nur noch der zweite rote Umschlag zwischen sie passte, wusste er gar nichts mehr.
viel spaÃ.
Show Content
Spoilerund bitte keine briefbomben schicken.
Zweiundvierzig
2011
Leon hatte ihn oft angelogen. Nicht nur ihn, nein, die ganze Welt hatte er angelogen, und obwohl ein untrügliches Gefühl ihm sagte, dass das, was er diesmal sagte, wahr war, war Simon unendlich erleichtert, als Anne unter dem dritten Mülleimer im Schlosspark den ersten roten Umschlag hervorzog.Sie hatte die ganze Fahrt hierher über nicht mit ihm gesprochen, kein einziges Wort. Gezappelt hatte sie, mehr Lärm gemacht als das Klappermobil, aber gesagt hatte sie nichts. Jetzt hielt sie den Umschlag unter seine Nase, nahm seine Hand und schloss seine Finger um das raue, weinrote Briefpapier.
„Nimm du.“, sagte ihr Blick. Ihr Mund sagte nichts.
Auch den zweiten Briefumschlag fanden sie, wie versprochen, unter einer Bank am Krankenhaus. Das Papier knisterte zwischen Simons Fingern als Anne es in seine Hände schob.
Er betrachtete die Umschläge, als könnten sie ihm ihren Inhalt verraten. Eine Weile lang war er gefangen von dem Wissen, das er in der Hand hielt. Von all den Möglichkeiten einer Wahrheit, die ein pflichtbewusster Polizist vor rund 20 Jahren vertuscht hatte.
Anne setzte sich auf die Bank, unter der gerade noch der Umschlag geklebt hatte.
„Simon?“, krächzte sie leise. Sie räusperte sich und setzte noch ein Mal an.
„Simon, was jetzt?“
Er sah von dem Geheimnis in seiner Hand auf und setzte sich neben sie.
„Ich weià nicht, willst du sie sofort aufmachen?“
Sie lächelte traurig, streckte eine Hand aus und fühlte über eine Ecke des oberen Umschlages, dann zog sie die Hand wieder zurück.
„Vielleicht will ich es gar nicht wissen.“, murmelte sie.
Sie streckte die Hand erneut aus, fühlte über die Ecke, zog die Hand zurück.
„Ich bin sauer auf dich, das weiÃt du, oder? Du hast mir richtig Angst gemacht.“, flüsterte sie dabei.
Simon nickte und wollte etwas antworten, aber sie sprach leise weiter.
„Und ich bin so stolz auf dich. Und...“
Sie brach ab und sagte nichts mehr. Es war kurz still, während sie die Hand hob, sie auf die beiden Briefe in seiner Hand legte und liegen lieÃ. Es fühlte sich an, als würde nicht nur ihre Hand, sondern ihr ganzes Gewicht darauf lasten.
„Und was?“
„Und ich glaube nicht, dass jemals irgendwer etwas schöneres und gruseligeres und wichtigeres für mich tun wird.“
Sie lächelte schüchtern.
„Ja, ich weiÃ, das passt nicht so ganz zusammen mit dem sauer sein, aber...“
„Ich versteh‘ schon.“
Er grinste schief. Gar nichts verstand er, aber sie anscheinend auch nicht.
„Simon?“
„Ja?“
„Kannst du sie aufmachen?“
Der erste Umschlag war dünn. Simon trennte ihn so behutsam er konnte auf. Während er mit seinen Fingern zwischen das zusammengeklebte Papier glitt, fühlte er, wie sie näher an ihn heran rutschte, bis sie fast auf seinem Schoà saÃ. Er konzentrierte sich auf das ReiÃen des Papiers, konnte seinen rechten Arm jedoch kaum bewegen, weil sie sich mit einer solchen Kraft gegen ihn schob, dass es Gewalt gebraucht hätte, um sich Freiheit zu verschaffen. Noch immer trennte er Papier von Papier, es schien ewig zu dauern und jedes Mal, wenn das Papier in seinen kalten Händen einen Millimeter zu weit riss, zuckte er erschrocken zusammen.
Unwillkürlich musste er an die Risse in der Decke seines Heimzimmers denken. Wie sie sie mit ihren Fingern verfolgt hatte, wie sie darüber philosophiert hatten und wie sie immer eine Hand breit Platz zwischen sich gelassen hatten weil sie beide ihren Raum brauchten. Für heute hatte sie die Spielregeln geändert, und er wusste nicht, ob...
Der letzte Rest Kleber gab nach. Im Briefumschlag lag ein zusammengefalteter, farblich passender Briefbogen, durch den Tinte in einer geschwungenen Handschrift schimmerte.
Sie starrten beide darauf. Simon hob umständlich den rechten Arm und legte ihn auf die Rückenlehne der Bank, was nicht zu mehr Freiraum führte, sondern nur dazu, dass Anne noch näher an ihn heran rutschte.
„Und jetzt?“, fragte er leise.
„Kannst du es mir vorlesen?“
So lange wie sie sich kannten hatte Anne oft komische Ideen gehabt, merkwürdige sogar. Aber nie war ihr Verhalten so wirr gewesen, so durcheinander, so... sinnlos. Vorlesen? Sie würde den Brief selbst lesen können, so nah wie sie saÃ. Simon fragte sich, was sie bezweckte – wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht.
Als er das Papier aus dem Umschlag nahm, zitterten auch seine Finger. Er faltete es auseinander und las.
Liebe Anne,
du kennst mich nicht. Du weiÃt nicht wer ich bin, aber ich kenne dich. Aus Geschichten, aus Gedichten, manchmal habe ich sogar von dir geträumt. Dass Leon sich so für dich interessierte und dir unbedingt die Wahrheit zukommen lassen wollte, war eine glückliche Fügung für mich, denn so hat er mich gefunden. Es war sein letzter Wunsch, dir zu helfen. Ich war zunächst nicht sicher, ob ich es wirklich verantworten kann, dir deine Geschichte zu erzählen, doch über die Jahre hatte ich immer wieder gemerkt, wie du auf deiner Suche immer engere Kreise um die Lösung zogst und es doch nie verstanden hast. Dein Wille, die Wahrheit zu finden, und Leons Hartnäckigkeit überzeugten mich schlieÃlich.
Du wirst dich fragen, wer ich bin, wieso ich die Wahrheit kenne und wie sie so lange verborgen bleiben konnte.
Die Antwort ist einfacher als du denkst. Wie alle Angestellten der Klinik in der ich arbeite, unterliege ich einer Schweigepflicht. Ich bin Krankenschwester und in den letzten 15 Jahren war deine Mutter meine liebste Patientin.
„Zeig!“ Sie riss ihm den Zettel aus der Hand und fuhr mit den Fingern über das Papier. Da stand es, Schwarz auf Weià – oder besser, Blau auf Rot – aber wie sollte das möglich sein?
Sie krallte die Finger in das Papier.
Ich weiÃ, dass dir gesagt wurde, deine Mutter sei bei dem Hausbrand erstickt. Die Wahrheit ist, sie wäre fast erstickt. Sie konnte rechtzeitig gerettet werden, doch der Kontakt mit dir wurde verboten. Sie vermisst dich jeden Tag.
Deine Mutter lebt.
Sie knüllte den Brief in einer Hand zusammen und stand auf, ging einige Schritte, bevor ihre Beine nachgaben. Simon starrte sie nur an.
„Alles in Ordnung, junge Frau?“
Eine Gruppe älterer Damen kam heran gewackelt und die kleinste unter ihnen bückte sich in unendlich langsamem Tempo zu Anne hinunter.
„Belästigt der Herr Sie?“
Anne sah sie an.
„Sie könnten Mayers Frau sein...“
„Wie bitte? Kind, du siehst ganz blass aus. Brauchst du einen Arzt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein... Simon?“
Er stand auf, wie automatisch, schob sich an der gebückten Dame vorbei und half seiner besten Freundin wieder auf die Beine. Die alten Damen sahen mehr als irritiert aus, als Anne sich an ihn lehnte und die Augen schloss.
„Wir kommen klar, vielen Dank.“, sagte er langsam und bemühte sich, harmlos zu lächeln.
„Ein schwacher Kreislauf.“, fügte er hinzu.
Die Frau tauschte einen Blick mit ihrer dünnen, groÃen Freundin, die sich auf einen Stock stützte, und der zierlichen Dame, die sich in einem Anfall von Jugendlichkeit die Haare lila gefärbt hatte.
„Wir sind direkt dort drüben.“, erklärte letztere jetzt drohend und Simon trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Anne kippte einfach mit. Er hielt sie fest und nickte der Dame zu.
„Das ist gut, danke.“, antwortete er brav und zog Anne zurück zur Bank.
Er wartete einige Minuten, bevor er sie ansprach, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, die sie da halb auf ihm lag und einfach nichts tat. Eine Ewigkeit, in der er nichts verstand, in der diese neue Wahrheit über ihnen schwebte und alles zu durchdringen schien. Alles war neu, doch nichts änderte sich, denn niemand begriff die ungeheuerliche Information, die sie soeben erhalten hatten.
„Alles in Ordung?“
„Meine Mutter lebt.“
*
Da war es wieder, das Schweigen zwischen ihnen. Aber diese Art von Schweigen war unangenehm. Es war ein hilfloses Schweigen. Keines, weil man keine Worte brauchte um einander zu verstehen, sondern weil man keine finden konnte.
Noch immer hielt sie den Brief fest umklammert, las nicht weiter und verschmierte die Tinte mit ihren schwitzenden Händen.
Simon fragte sich wann sie bereit sein würde den zweiten Brief zu öffnen. Ob er selbst bereit war? Es war ganz und gar nicht so, wie Simon sich das alles vorgestellt hatte. Sie waren keine Detektive oder Agenten aus dem Fernsehen, die einfach immer weiter gegen die Zeit rannten, Information um Information verarbeiteten und in 40 Minuten auf dem Bildschirm Geheimnisse auseinandernahmen. Sie waren mitten drin und sie konnten nicht weiter in diesen Riesenschritten.
Anne war aufgestanden und lief hin und her, murmelte vor sich hin. Bald würde sie in eine fremde Sprache verfallen oder eine Superkraft offenbaren, fürchtete Simon, aber es passierte nichts. Da war nur ein kleines Mädchen, das verwirrt von A nach B tigerte und er, Simon, der hier festsaà mit noch mehr in der Hand was dem nervösen Wrack, das heute Morgen noch seine beste Freundin gewesen war, vermutlich den Rest geben würde.
Langsam fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Seit er von Mayer wusste, überlegte er, ob es wirklich klug war, dass Anne ihre Vergangenheit mit aller Kraft verfolgte. Doch geholfen hatte er ihr trotzdem, alle Bedenken ignoriert, alle Ãngste zerstreut, vielleicht in der geheimen Hoffnung, dass sie die Wahrheit sowieso niemals finden würden.
Und langsam, kalt und beklemmend, wie das Wasser, das er so fürchtete, breitete sich ein Verdacht in ihm aus. Was war, wenn er am Ende doch gegen Leon verloren hatte?
Jahre voller Therapie hatte es gebraucht bis Simon sich nicht mehr als Unglücksbringer sah. Jahre in denen ihm eingetrichtert werden musste, dass alles nicht seine Schuld gewesen war. Und doch – am Ende konnte es gut sein, dass Leon Recht behalten würde: Es war seine Schuld, dass Anne jetzt die Wahrheit herausfand, vor der er sie eigentlich hätte schützen müssen, nur weil er Leon zeigen wollte, dass er kein kleiner Schwächling mehr war.
Am Ende war er nur ein selbstsüchtiger Versager, genau wie sein Vater, und Anne würde...
„Die Frau ist doch irre.“, unterbrach sie seine Gedanken plötzlich und lieà sich neben ihn auf die Bank plumpsen.
Ãberrascht hob er den Kopf. War sie plötzlich aus ihrer Trance erwacht?
„Wie meinst du das?“, fragte er vorsichtig nach, weil ihm nichts Besseres einfiel.
„Hier steht, dass sie in Leon verliebt ist!“
Sie wedelte mit dem Brief vor seiner Nase herum, den sie offensichtlich zu Ende gelesen hatte.
„IN LEON! Ich möchte dir ja nicht zu nahe treten aber dein Vater ist das widerlichste, unsympathischste und abartigste... Viech das mir je begegnet ist, und letzten Sommer hatte ich Kakerlaken in der Wohnung. Und wegen sowas rennt die durch die Stadt und klebt Umschläge mit den Geheimnissen meiner Familie unter Mülleimer - ist die bescheuert? Für so einen schmuggelt die Morphin? Hat die nichts anderes zu tun? Wieso sammelt die keine toten Motten zum Zeitvertreib? Oder sprengt irgendwas, wie normale Irre?!“
Die Worte strömten über ihn hinweg und sickerten in ihm ein, doch er brauchte zu lange, um sie zu verstehen, und konnte einfach nichts Sinnvolles antworten, weil sie immer nur weiter redete, wild mit den Händen fuchtelte und ihn dabei ständig schlug, was sie offenbar entweder nicht mitbekam oder nicht interessierte.
„Annie, Stopp. Stopp!“, rief er schlieÃlich, mitten in einen Katalog von „sinnvolleren Beschäftigungen für untervögelte Knastigroupies“, den sie ohne Punkt und Komma über ihn ausschüttete, als hätte sie das Schweigen der letzten Stunde eigens dafür genutzt, um sich das alles auszudenken.
Sie hielt inne und sah ihn überrascht an.
„Was? Findest du das nicht irre?“
Er lächelte und wusste nicht genau warum. Diese Situation war so verrückt, so unglaublich und verstörend, und trotzdem musste er fast lachen. Recht hatte sie ja.
„Doch natürlich...“, fing er an und nickte.
„Aber... das ist doch nicht das, was dich an ihrer Geschichte eigentlich umgehauen hat, Annie. Deine Mutter...“
Sie nahm ihm den zweiten Umschlag aus der Hand.
„Ja.“, sagte sie, „Ja, meine Mutter. Glaubst du, das ist wahr?“
„Ich weià nicht?“
„Ich glaube schon. Leon wusste meinen Spitznamen, weiÃt du? Den von meinen Eltern. Den hatte ich selbst vergessen.“
„Käferchen?“
Er sah zu, wie die Tränen in ihren Augen hochstiegen, als ob es ihr Gewissheit verschaffte, das Wort noch einmal zu hören.
„Willst du den zweiten Umschlag öffnen? Ich kann dir den Brief vorlesen.“
„Ich will nicht mehr. Ich kann jetzt nich noch einen... Ich weià nicht was ich will.“
„Also bleiben wir einfach hier sitzen? Oder willst du nach hause?“
Es war kurz still. Wenn man den wilden Gedankenwirrwar in ihrem Kopf „kurz nachdenken“ nennen konnte, dann tat sie das gerade. Aber wahrscheinlich wäre das eine absolut falsche Wortwahl gewesen.
Simon beobachtete, wie hinter ihrer Stirn die Gedanken rasten. Fast konnte er ihre Angst und ihren Schmerz fühlen, das Unwissen und das Wissen und die Last der Wahrheit, die plötzlich nicht mehr so verlockend schien sondern furchteinflöÃend und gefährlich.
Er konnte sehen, wie sich die Leere in ihren Augen ausbreitete, bis nur noch ein groÃes Nichts da war.
„Jetzt hör doch endlich mal auf, mich zu fragen, was ich will.“, flüsterte sie schlieÃlich.
Wenn er ehrlich war, hätte er es wissen müssen. Aber als sie ihn küsste, die Hände in seinen Haaren vergrub und sich an ihn presste, sodass nur noch der zweite rote Umschlag zwischen sie passte, wusste er gar nichts mehr.