16.11.2011, 13:59
so. entschuldigt evtl. rechtschreibfehler- mel ist immernoch beschäftigt und ich will den teil jetzt loswerden
Zwölf
Unglück, ja, dieses Krankenhaus war ein Ort, an dem es scheinbar nur Unglück gab. Wie blind waren sie gewesen, dass sie geglaubt hatten, hier ihr Glück zu finden?
Er hatte dieses verfluchte Kind von Anfang an nicht gewollt. Aber Marie, sie hatte sich wieder durchgesetzt, und jetzt wartete er hier, in diesem kalten, gekachelten Wartezimmer, das eindeutig zu wenig Stühle und zu viele unwissende Krankenschwestern hatte, er wartete, dass endlich jemand kam, der ihm sagen konnte, was mit seiner Frau los war.
âLeon Keller?â
Ein junger, spindeldürrer Arzt trat an ihn heran und gab ihm die Hand. Leon wusste sofort, was er ihm sagen würde. Es war vorbei â sonst hätte er nicht so lange hier drauÃen warten müssen.
âEs tut mir sehr leid, wir haben getan was wir konnten, aber wir konnten die Blutung nicht stillen.â, sagte der Arzt in geschäftsmäÃigem Ton, und vor Leons Augen wurde alles weiÃ. Erzählte dieser Halbstarke im weiÃen Kittel ihm gerade, dass seine Marie tot war? Einfach so? âWir konnten die Blutung nicht stillenâ? Zu was waren verdammte Ãrzte denn sonst da?
Er ballte die Fäuste und wollte etwas sagen, da sprach der Arzt, der kaum älter als Mitte Zwanzig sein konnte, erneut.
âAber ich habe eine gute Nachricht. Wir konnten das Baby retten, es ist ein Junge, er ist gesund und munter. Sie können ihn gleich sehen. Ich bin sicher, ihre Frau hätte es so gewollt.â
Dumpf drangen die Worte zu Leon durch und er wünschte sich fast, dass er sie nicht hätte hören können. Er bemerkte, wie sich neugierige und mitleidige Blicke in ihn hineinbohrten, wie dieses gesamte Wartezimmer nichts besseres zu tun hatte, als ihn anzustarren und in seinem Unglück zu baden, solange es noch nicht ihres war.
Das Baby, was sollte er mit dem verfluchten Baby? Er hatte ihr gleich gesagt, dass er es nicht wollte, und jetzt sollte er sich allein darum kümmern? Ohne sie?
Und zu allem Ãberfluss maÃte sich dieser hirnverbrannte Miniaturarzt auch noch an, zu erzählen,sie hätte es so gewollt? Was wusste der schon? Gerade mal ihren Namen!
Er dachte nicht einmal, er plante nicht und er fühlte nicht. Er schlug einfach nur zu, bis ihn jemand davon abhielt.
âEine verständliche Kurzschlussreaktionâ, hatten sie es später genannt. Der kleine Quacksalber hatte ihn angezeigt, obwohl er so ein schrecklicher Gutmensch war, aber das Gericht hatte Verständnis. Trotzdem hatte er Simon an eine Pflegefamilie abgeben müssen, bis er selbst alles geregelt hatte: Eine nutzlose Therapie, um seinen Ãrger zu kontrollieren und gemeinnützige Arbeit dafür, dass er einen unfähigen Trottel mit einem Nasenbein- und einem Kieferbruch aus dem Verkehr gezogen hatte. Hätte ihm die Gesellschaft dafür nicht dankbar sein sollen? Er lieà sich zeit, bevor er Simon zu sich holte.
Simon war der Name gewesen, den sich Marie für ihn ausgedacht hatte, âvon Gott erhörtâ sollte es heiÃen, weil sie Schwanger geworden war, obwohl Leon es nicht gewollt hatte. Bevor sie gestorben war, hatte sie den Ãrzten gesagt, dass er Simon heiÃen sollte, und Leon konnte nichts dagegen tun â er wollte es auch gar nicht. Sollte das Kind doch heiÃen wie sie wollte, es war ihm egal.
Es stimmte, er hatte keine Kinder gewollt, und er war gewohnt dass alles nach seinem Willen ging.
Aber vielleicht war Marie die einzige Person, die er je geliebt hatte, und der Name war nur das kleinste Problem an dem Kind gewesen, das sie in der Welt zurückgelassen hatte.
Also konzentrierte sich Leon auf andere Dinge, die er an dem Kind hassen konnte, und als er ihn nach einem Jahr, gierig nach Kindergeld, zu sich zurückholte, fand er schnell eine ganze Menge davon.
gab vor, mit seinem ertragslosen Versicherungsvertreterjob so beschäftigt zu sein, dass er keine Zeit hatte, um sich um Simon zu kümmern.
Vielleicht tat er es, weil er wusste, dass er Simon mit all seinem Hass sonst umgebracht hätte, aber wahrscheinlich wollte er nur nicht im Gefängnis landen - nicht wegen diesem kleinen, abartigen Wesen, das er irgendwie am Leben halten musste, weil ständig das Jugendamt vorbeischaute.
Ganz gelogen hatte er übrigens nicht, wenn er Simon wieder mal zu spät abholte, weil er noch âarbeitenâ musste.
Er hatte wirklich keine Zeit, denn das Geld war knapp, und Leon brauchte so viel davon, dass ein ehrlicher Job längst nicht mehr dazu ausreichte. Um seinen hohen Alkoholkonsum zu finanzieren, begann er zu spielen, er wettete auf Pferde, auf Boxkämpfe und darauf, dass die Roulettekugel im richtigen Moment auf der richtigen Zahl landete.
Und er gewann - am Anfang.
Bevor er sich versah, war er spielsüchtig, rauchte und trank, und das glückliche Leben, das er vor Simons Geburt mit Marie geführt hatte, blieb eine bloÃe Erinnerung, die er bald vergaÃ.
An einem Sonntag im Mai 1990, zwei Monate vor Simons zweitem Geburtstag, stahl er seine erste Handtasche.
Irgendwie musste er sich den Alkohol finanzieren, um das Kind am Wochenende ertragen zu können, und bald stellte er fest, dass alte Damen, die gerade aus der Kirche kamen, leichte Opfer waren.
Wie sich herausstellte, waren sie auch leichte Opfer, wenn man als Versicherungsvertreter an ihrer Tür erschien und dann noch kurz um ein Glas Wasser oder die Benutzung der Toilette bat, um die Schmuckkästen leerzuräumen, doch auch wenn es unglaublich viele alte Damen in der Stadt gab, reichte auch das bald nicht mehr.
Er musste andere Möglichkeiten finden, Geld zu verdienen, und das tat er auch.
Fehlverhalten, das bedeutete schreien. Er wusste, er durfte nicht schreien. Auch ein Vierjähriger konnte das schnell lernen, wenn nur die richtigen Mittel genutzt wurden, um es ihm beizubringen.
Um das ganze möglichst einfach zu machen, tat er so, als ob er schlief. Es wäre dumm gewesen, nach Essen zu fragen, auch wenn er Hunger hatte, denn er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, was ihn wütend machte. Wenn er sich nicht bewegte und nichts sagte, einfach still in seinem Bett lag, würde er vielleicht kein Interesse entwickeln.
Er spürte, wie sich sein Vater über ihn beugte, roch seinen Atem, der so widerlich roch, dass es in Simon einen Würgereflex hervorrief - doch was hätte er herauswürgen sollen? Normalerweise gab es nach dem Frühstück nichts mehr zu essen.
âEr ist eben sehr dünn.â, würde sein Vater den Erzieherinnen im Kindergarten sagen, wenn sie wieder nachfragten. Dann würde er erläutern, dass Simons Mutter damals genau so dünn gewesen sei, und dass Simon so oft krank wurde, weil er sein Immunsystem ebenfalls von ihr geerbt hatte.
Seine arme Frau, die gestorben war, als Simon auf die Welt kam. Zuhause pflegte er zu sagen, dass Simon sie umgebracht hätte, aber im Kindergarten hielt er stets das Bild des besorgten Vaters aufrecht â mit Erfolg.
Die Erzieherinnen verfielen seinem Charme reihenweise, sahen in ihm den tapferen alleinerziehenden Witwer, mit dem sie am liebsten selbst ins Bett gesprungen wären, wäre das nicht so unglaublich pietätlos gewesen wäre. Ja, sie liebten ihn. Und ihre liebe zu Simon, der mit Sicherheit der niedlichste, kleinste, Schmächtigste und schüchternste Junge im gesamten Kindergarten war, war auf einmal nicht mal mehr eine Nachfrage wert. Ein so gutaussehender Mann konnte ja nur recht haben!
Jetzt hörte er, wie sein Vater sich abdrehte, nachdem er ihn einige Sekunden genau betrachtet hatte.
Er fragte sich, ob die Kinder aus dem Kindergarten das hier meinten, wenn sie von âins Bett bringenâ sprachen, und warum sie es so schön fanden. Manchmal glaubte er, dass seine Familie nicht so war wie alle anderen. Weil seine Mutter tot war, und weil es seine Schuld war.
Er lauschte auf die Bewegungen seines Vaters, doch er hörte keine mehr. Neugierig öffnete er die Augen. Das war sein Fehler.
âHallo, kleiner Teufel. Hast du schon wieder verucht, mich auszutricksen? Steh auf.â
Simon schob mit einer Hand den Teddy unter seine Decke und hoffte, dass Leon ihn nicht finden würde.
Dann setzte er sich zögerlich auf, lieà die kleinen, dünnen FüÃe auf den kalten Boden gleiten und sah zu seinem Vater auf.
Auf dessen frage hin schüttelte er den Kopf und senkte den Blick zum Boden.
âEin kleiner Teufel und ein Lügner bist du, nichts weiter. Ein geschöpf der Hölle, das die eigene Mutter getötet hat. Dreh dich um.â
Simon gehorchte, weil es keine andere Möglichkeit gab, als zu warten, bis es vorbei war. Er schrie nicht, als ihn der erste schlag traf, und er schämte sich für seine Tränen, gegen die er nichts tun konnte.
Leon grinste selbstgefällig und schubste ihn schlieÃlich unsanft zurück ins Bett, als Simon sich auf den zittrigen dürren Beinen kaum noch aufrecht halten konnte.
Er griff in das Bett des Kindes und zog den zerlumpten Teddy unter der Decke hervor. Rot geweinte Augen weiteten sich vor Schreck, und Simon erstarrte in der Bewegung, als er hastig die Tränen mit seinen schmutzigen Schlafanzugärmeln von seinem Gesicht wischen wollte.
âHeute nicht.â, entschied Leon, spuckte den Teddy an und warf ihn mit Schwung in eine Ecke. Dann schaltete er das Licht aus, knallte die Tür und verschwand.
Mitten in der Nacht stand der vierjährige auf, suchte im Dunklen nach seinem Teddy und hob ihn in seine Arme. Niemand hatte je gesehen, wie viele blaue Flecken seinen Rücken zierten, er hatte keine einzige Narbe, nichts was Leon hätte verraten können. Sein Teddy trug seine Narben für ihn, und er, Simon, Mörder seiner eigenen Mutter, versagte jeden Tag wieder kläglich darin, ihn zu beschützen.
Leon fragte sich oft, warum er Simon nicht einfach zur Adoption freigegeben hatte. Warum er ihn in seinen Wutanfällen niemals umgebracht hatte, obwohl er es manchmal gern gewollt hätte.
War es das Kindergeld? War es das letzte Stück Marie in dieser grauen Welt, das er nicht gehen lassen konnte? Liebte er dieses Kind vielleicht doch irgendwie?
Seine plausibelste Theorie blieb, dass er Simon selbst bestrafen wollte, für das, was er ihm angetan hatte, als er auf die Welt kam.
Zwölf
1988
Unruhig trat er von einem Bein aufs andere, fuhr sich wieder und wieder durch die Haare und knackte mit den Fingerknöcheln. Längst konnte Leon nicht mehr sitzen. Das Krankenhaus war voll mit so vielen Menschen, die warteten, und andauernd wurde man von irgendeiner Mittfünfzigerin angesprochen, wegen wem man hier war und ob sie etwas tun könnte. Leon fragte sich, wo diese ganzen vor Mitleid nur so triefenden Menschen herkamen und was sie ausgerechnet von ihm wollten. Waren sie nicht alle hier, um sich um ihre eigene Familie zu kümmern? War er ihre Beschäftigungstherapie, damit sie nicht an ihr eigenes Unglück denken mussten?Unglück, ja, dieses Krankenhaus war ein Ort, an dem es scheinbar nur Unglück gab. Wie blind waren sie gewesen, dass sie geglaubt hatten, hier ihr Glück zu finden?
Er hatte dieses verfluchte Kind von Anfang an nicht gewollt. Aber Marie, sie hatte sich wieder durchgesetzt, und jetzt wartete er hier, in diesem kalten, gekachelten Wartezimmer, das eindeutig zu wenig Stühle und zu viele unwissende Krankenschwestern hatte, er wartete, dass endlich jemand kam, der ihm sagen konnte, was mit seiner Frau los war.
âLeon Keller?â
Ein junger, spindeldürrer Arzt trat an ihn heran und gab ihm die Hand. Leon wusste sofort, was er ihm sagen würde. Es war vorbei â sonst hätte er nicht so lange hier drauÃen warten müssen.
âEs tut mir sehr leid, wir haben getan was wir konnten, aber wir konnten die Blutung nicht stillen.â, sagte der Arzt in geschäftsmäÃigem Ton, und vor Leons Augen wurde alles weiÃ. Erzählte dieser Halbstarke im weiÃen Kittel ihm gerade, dass seine Marie tot war? Einfach so? âWir konnten die Blutung nicht stillenâ? Zu was waren verdammte Ãrzte denn sonst da?
Er ballte die Fäuste und wollte etwas sagen, da sprach der Arzt, der kaum älter als Mitte Zwanzig sein konnte, erneut.
âAber ich habe eine gute Nachricht. Wir konnten das Baby retten, es ist ein Junge, er ist gesund und munter. Sie können ihn gleich sehen. Ich bin sicher, ihre Frau hätte es so gewollt.â
Dumpf drangen die Worte zu Leon durch und er wünschte sich fast, dass er sie nicht hätte hören können. Er bemerkte, wie sich neugierige und mitleidige Blicke in ihn hineinbohrten, wie dieses gesamte Wartezimmer nichts besseres zu tun hatte, als ihn anzustarren und in seinem Unglück zu baden, solange es noch nicht ihres war.
Das Baby, was sollte er mit dem verfluchten Baby? Er hatte ihr gleich gesagt, dass er es nicht wollte, und jetzt sollte er sich allein darum kümmern? Ohne sie?
Und zu allem Ãberfluss maÃte sich dieser hirnverbrannte Miniaturarzt auch noch an, zu erzählen,sie hätte es so gewollt? Was wusste der schon? Gerade mal ihren Namen!
Er dachte nicht einmal, er plante nicht und er fühlte nicht. Er schlug einfach nur zu, bis ihn jemand davon abhielt.
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âEine verständliche Kurzschlussreaktionâ, hatten sie es später genannt. Der kleine Quacksalber hatte ihn angezeigt, obwohl er so ein schrecklicher Gutmensch war, aber das Gericht hatte Verständnis. Trotzdem hatte er Simon an eine Pflegefamilie abgeben müssen, bis er selbst alles geregelt hatte: Eine nutzlose Therapie, um seinen Ãrger zu kontrollieren und gemeinnützige Arbeit dafür, dass er einen unfähigen Trottel mit einem Nasenbein- und einem Kieferbruch aus dem Verkehr gezogen hatte. Hätte ihm die Gesellschaft dafür nicht dankbar sein sollen? Er lieà sich zeit, bevor er Simon zu sich holte.
Simon war der Name gewesen, den sich Marie für ihn ausgedacht hatte, âvon Gott erhörtâ sollte es heiÃen, weil sie Schwanger geworden war, obwohl Leon es nicht gewollt hatte. Bevor sie gestorben war, hatte sie den Ãrzten gesagt, dass er Simon heiÃen sollte, und Leon konnte nichts dagegen tun â er wollte es auch gar nicht. Sollte das Kind doch heiÃen wie sie wollte, es war ihm egal.
Es stimmte, er hatte keine Kinder gewollt, und er war gewohnt dass alles nach seinem Willen ging.
Aber vielleicht war Marie die einzige Person, die er je geliebt hatte, und der Name war nur das kleinste Problem an dem Kind gewesen, das sie in der Welt zurückgelassen hatte.
Also konzentrierte sich Leon auf andere Dinge, die er an dem Kind hassen konnte, und als er ihn nach einem Jahr, gierig nach Kindergeld, zu sich zurückholte, fand er schnell eine ganze Menge davon.
*
1990
Alleinerziehende Väter bekamen wunderbare Kindergartenplätze. So früh wie er konnte schob Leon das Kind ab, das er nur in der Ãffentlichkeit seinen Sohn nannte,gab vor, mit seinem ertragslosen Versicherungsvertreterjob so beschäftigt zu sein, dass er keine Zeit hatte, um sich um Simon zu kümmern.
Vielleicht tat er es, weil er wusste, dass er Simon mit all seinem Hass sonst umgebracht hätte, aber wahrscheinlich wollte er nur nicht im Gefängnis landen - nicht wegen diesem kleinen, abartigen Wesen, das er irgendwie am Leben halten musste, weil ständig das Jugendamt vorbeischaute.
Ganz gelogen hatte er übrigens nicht, wenn er Simon wieder mal zu spät abholte, weil er noch âarbeitenâ musste.
Er hatte wirklich keine Zeit, denn das Geld war knapp, und Leon brauchte so viel davon, dass ein ehrlicher Job längst nicht mehr dazu ausreichte. Um seinen hohen Alkoholkonsum zu finanzieren, begann er zu spielen, er wettete auf Pferde, auf Boxkämpfe und darauf, dass die Roulettekugel im richtigen Moment auf der richtigen Zahl landete.
Und er gewann - am Anfang.
Bevor er sich versah, war er spielsüchtig, rauchte und trank, und das glückliche Leben, das er vor Simons Geburt mit Marie geführt hatte, blieb eine bloÃe Erinnerung, die er bald vergaÃ.
An einem Sonntag im Mai 1990, zwei Monate vor Simons zweitem Geburtstag, stahl er seine erste Handtasche.
Irgendwie musste er sich den Alkohol finanzieren, um das Kind am Wochenende ertragen zu können, und bald stellte er fest, dass alte Damen, die gerade aus der Kirche kamen, leichte Opfer waren.
Wie sich herausstellte, waren sie auch leichte Opfer, wenn man als Versicherungsvertreter an ihrer Tür erschien und dann noch kurz um ein Glas Wasser oder die Benutzung der Toilette bat, um die Schmuckkästen leerzuräumen, doch auch wenn es unglaublich viele alte Damen in der Stadt gab, reichte auch das bald nicht mehr.
Er musste andere Möglichkeiten finden, Geld zu verdienen, und das tat er auch.
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1992
Simon hielt den Teddy fest in der Hand, der inzwischen nur noch aus einem Kopf, einem Körper und einem Bein bestand. Seine Mutter hatte ihn vor seiner Geburt gekauft, und er liebte ihn abgöttisch â weshalb er für Simons Vater ein wertvolles Folterinstrument darstellte. Ein Körperteil nach dem anderen hatte er dem Teddy abgerissen, wenn Simon sich nicht benahm. Es waren nur noch der Kopf und das Bein übrig geblieben, und Simon wusste, jetzt durfte er sich kein Fehlverhalten mehr leisten.Fehlverhalten, das bedeutete schreien. Er wusste, er durfte nicht schreien. Auch ein Vierjähriger konnte das schnell lernen, wenn nur die richtigen Mittel genutzt wurden, um es ihm beizubringen.
Um das ganze möglichst einfach zu machen, tat er so, als ob er schlief. Es wäre dumm gewesen, nach Essen zu fragen, auch wenn er Hunger hatte, denn er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, was ihn wütend machte. Wenn er sich nicht bewegte und nichts sagte, einfach still in seinem Bett lag, würde er vielleicht kein Interesse entwickeln.
Er spürte, wie sich sein Vater über ihn beugte, roch seinen Atem, der so widerlich roch, dass es in Simon einen Würgereflex hervorrief - doch was hätte er herauswürgen sollen? Normalerweise gab es nach dem Frühstück nichts mehr zu essen.
âEr ist eben sehr dünn.â, würde sein Vater den Erzieherinnen im Kindergarten sagen, wenn sie wieder nachfragten. Dann würde er erläutern, dass Simons Mutter damals genau so dünn gewesen sei, und dass Simon so oft krank wurde, weil er sein Immunsystem ebenfalls von ihr geerbt hatte.
Seine arme Frau, die gestorben war, als Simon auf die Welt kam. Zuhause pflegte er zu sagen, dass Simon sie umgebracht hätte, aber im Kindergarten hielt er stets das Bild des besorgten Vaters aufrecht â mit Erfolg.
Die Erzieherinnen verfielen seinem Charme reihenweise, sahen in ihm den tapferen alleinerziehenden Witwer, mit dem sie am liebsten selbst ins Bett gesprungen wären, wäre das nicht so unglaublich pietätlos gewesen wäre. Ja, sie liebten ihn. Und ihre liebe zu Simon, der mit Sicherheit der niedlichste, kleinste, Schmächtigste und schüchternste Junge im gesamten Kindergarten war, war auf einmal nicht mal mehr eine Nachfrage wert. Ein so gutaussehender Mann konnte ja nur recht haben!
Jetzt hörte er, wie sein Vater sich abdrehte, nachdem er ihn einige Sekunden genau betrachtet hatte.
Er fragte sich, ob die Kinder aus dem Kindergarten das hier meinten, wenn sie von âins Bett bringenâ sprachen, und warum sie es so schön fanden. Manchmal glaubte er, dass seine Familie nicht so war wie alle anderen. Weil seine Mutter tot war, und weil es seine Schuld war.
Er lauschte auf die Bewegungen seines Vaters, doch er hörte keine mehr. Neugierig öffnete er die Augen. Das war sein Fehler.
âHallo, kleiner Teufel. Hast du schon wieder verucht, mich auszutricksen? Steh auf.â
Simon schob mit einer Hand den Teddy unter seine Decke und hoffte, dass Leon ihn nicht finden würde.
Dann setzte er sich zögerlich auf, lieà die kleinen, dünnen FüÃe auf den kalten Boden gleiten und sah zu seinem Vater auf.
Auf dessen frage hin schüttelte er den Kopf und senkte den Blick zum Boden.
âEin kleiner Teufel und ein Lügner bist du, nichts weiter. Ein geschöpf der Hölle, das die eigene Mutter getötet hat. Dreh dich um.â
Simon gehorchte, weil es keine andere Möglichkeit gab, als zu warten, bis es vorbei war. Er schrie nicht, als ihn der erste schlag traf, und er schämte sich für seine Tränen, gegen die er nichts tun konnte.
Leon grinste selbstgefällig und schubste ihn schlieÃlich unsanft zurück ins Bett, als Simon sich auf den zittrigen dürren Beinen kaum noch aufrecht halten konnte.
Er griff in das Bett des Kindes und zog den zerlumpten Teddy unter der Decke hervor. Rot geweinte Augen weiteten sich vor Schreck, und Simon erstarrte in der Bewegung, als er hastig die Tränen mit seinen schmutzigen Schlafanzugärmeln von seinem Gesicht wischen wollte.
âHeute nicht.â, entschied Leon, spuckte den Teddy an und warf ihn mit Schwung in eine Ecke. Dann schaltete er das Licht aus, knallte die Tür und verschwand.
Mitten in der Nacht stand der vierjährige auf, suchte im Dunklen nach seinem Teddy und hob ihn in seine Arme. Niemand hatte je gesehen, wie viele blaue Flecken seinen Rücken zierten, er hatte keine einzige Narbe, nichts was Leon hätte verraten können. Sein Teddy trug seine Narben für ihn, und er, Simon, Mörder seiner eigenen Mutter, versagte jeden Tag wieder kläglich darin, ihn zu beschützen.
*
Leon fragte sich oft, warum er Simon nicht einfach zur Adoption freigegeben hatte. Warum er ihn in seinen Wutanfällen niemals umgebracht hatte, obwohl er es manchmal gern gewollt hätte.
War es das Kindergeld? War es das letzte Stück Marie in dieser grauen Welt, das er nicht gehen lassen konnte? Liebte er dieses Kind vielleicht doch irgendwie?
Seine plausibelste Theorie blieb, dass er Simon selbst bestrafen wollte, für das, was er ihm angetan hatte, als er auf die Welt kam.